Kraftplätze und Kraftlinien – mit Studienbeispielen aus der Münchener Innenstadt
Von Gerd-Lothar Reschke
Inhalt
Wir können uns dem Thema und seiner praktischen Anwendung nur nähern, wenn es uns möglich ist, Kraft wahrzunehmen. Hierzu ist es zuerst einmal nötig, äußere und innere Wahrnehmung zu vereinen.
Äußere Wahrnehmung kennen wir: Wir blicken nach außen und beobachten Gegenstände und Eindrücke. Zumeist kommt nun auch das rationale Beurteilen hinzu und wir bringen gehörte oder gelesene Informationen und Bewertungsmaßstäbe hinzu. Wenn wir z.B. ein Schloß sehen, ordnen wir es einer Epoche zu und versuchen, eine der Stilgattung zugehörige Schublade zu finden, wie etwa Renaissance, Barock, Rokoko etc.
Was ist nun aber innere Wahrnehmung? Es ist der subjektive Eindruck jenseits der rationalen Beurteilung. Wenn dieser Eindruck oberflächlich ist, kann es sich um eine Geschmacksempfindung handeln. Geht er tiefer, werden Gefühle ausgelöst. So, wie Menschen auf uns wirken, können Orte und können auch Bauten auf uns wirken. Wir fühlen uns vielleicht beunruhigt, verunsichert, bedroht — oder geborgen, besänftigt, beruhigt, ausgeglichen.
Wie Sie wohl schon bemerkt haben, wird bei äußeren Wahrnehmungen in der Regel von beweisbaren, wiederholbaren, logisch verifizierbaren Fakten gesprochen, während der innere Bereich als unsicher und schwammig dargestellt wird. Der innere Bereich scheint auf diese Weise den Beigeschmack von Fragwürdigkeit und Munkelei zu bekommen. In einer rein rationalen Weltsicht wird daher der erste Bereich bevorzugt oder als allein gültig behandelt, während der zweite weggedrängt und ausgeklammert wird. Das Problem, das man sich dadurch aber einhandelt, ist die Unterdrückung wesentlicher Anteile unserer Wahrnehmung. Ja, manchmal wird sogar die gesamte Wahrnehmung unter den Teppich gekehrt und nur noch nach abstrakt-rationalen Gesichtspunkten vorgegangen. Wir kennen das von genügend vielen Beispielen heutiger, moderner Architektur. Auf dem Reißbrett wird irgendeine abstrakte Idee postuliert, nach der sich dann alles zu richten hat; und nachdem so gebaut worden ist, hat sich Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte lang die Bevölkerung dem hierdurch geschaffenen Eindruck zu unterwerfen.
Um ganzheitlich wahrzunehmen, muß also die innere Wahrnehmung wieder respektiert werden. Während dies geschieht, finden wir heraus, daß sie gar nicht so "subjektiv" — also nur bei einem einzigen individuellen Beobachter auftretend — ist, wie man annehmen könnte. Oft stimmen die Wahrnehmungen unterschiedlicher Betrachter auf verblüffende Weise überein. Auch stellt sich heraus, daß diese Übereinstimmung nicht nur auf Vertreter bestimmter Bildungs- oder Bevölkerungsgruppen beschränkt ist.
Innere Wahrnehmung wiederzubeleben, das heißt, sich ihrer Nuancen und ihrer "Sprache" neu gewahr zu werden. Hierzu ist es dienlich, wenn Begriffe wie "heilend", "stärkend", "harmonisierend", "klärend" benutzt werden — bzw. im komplementären Bereich: "krankmachend", "schwächend", "destruktiv", "verwirrend". Man kann nun anhand der wahrgenommenen Örtlichkeit oder des in Frage stehenden Gebäudes untersuchen: Welche Vokabeln treffen darauf zu? Oder: Auf welche Aspekte des Ortes oder des Gebäudes treffen sie zu, und auf welche nicht?
Und weiter: Warum treffen sie zu oder treffen sie nicht zu? Und ferner: Welche Rückschlüsse lassen sich in bezug auf die Absicht dessen ziehen, der den Ort oder das Bauwerk gestaltet hat? Welche Ausstrahlung, welche Grundorientierung ist hier am Werk?
Die Wahrnehmung von Kraft ist ein vorrationales Erfahren. Ich kann hier nur Beispiele und Hinweise liefern — herausfinden, praktisch studieren, überprüfen und verifizieren müssen Sie selbst. Kraft ist dort vorhanden, wo die Attribute "heilend", "stärkend", "harmonisierend", "klärend" zutreffen. Wo Sie sich, einfach ausgedrückt, besser fühlen.
Wir hatten bereits den Fall mit der
Rückendeckung, und so simpel er ist, so reicht er doch schon vollends, um die Sache völlig nachvollziehbar und plausibel zu machen. Ein Platz ohne Rückendeckung ist kraftlos, ein Platz mit Rückendeckung kraftvoll.
Selbstverständlich gibt es viel extremere Beispiele: Sie mögen auf einem ganz besonders exponierten keltischen Kultplatz stehen — diese Plätze sind stets nach Gesichtspunkten von Kraft und Kraftaufladung konzipiert — und dabei Gefühle von starker Euphorie und Inspiration erfahren. Oder Sie mögen sich an einem vielbesuchten, düsteren U-Bahnhof einer Großstadt befinden und sich dabei völlig ausgelaugt, depressiv und geschwächt fühlen — dann wissen Sie auch, was ich meine. Es gibt Bauten, in oder vor denen Sie sich klein, gedemütigt, geringgeschätzt und einfach nur schlecht fühlen, und es gibt Bauten, bei denen Sie spüren, daß da etwas ganz Besonderes ist. Auch wenn man das nicht sofort in die richtigen Worte fassen kann: Man spürt es, und man weiß es.
In diesen Fällen bringt es wenig, diese Wahrnehmungen zu relativieren, nur weil man sie nicht "beweisen" kann. Wenn Sie das tun, töten Sie Ihre Intuition ab und damit auch einen Teil von sich selbst. Lassen Sie es einfach zu, wenn Sie so etwas spüren, und nach und nach werden Sie immer sicherer und selbstgewisser, daß es berechtigt ist, was Sie spüren. Ihre Wahrnehmung hat sich schrittweise geöffnet, und dieser Vorgang kann immer weitergehen und immer neue Bereiche umfassen.
Ich möchte Ihnen nun einige praktische Gesichtspunkte an die Hand geben, mit denen Sie Ihre Wahrnehmung erproben und verfeinern können. Erinnern Sie sich noch einmal, daß, wenn hier von Kraft oder Energie gesprochen wird, kein physikalisch meßbarer Magnet- oder elektrischer Strom gemeint ist, sondern eine im eigenen Innern spürbare Veränderung. Diese kann Lebenskraft betreffen, aber auch Aufmerksamkeit, oder beides zusammen. Lebenskraft kann als Potential, als Wohlgefühl oder als einströmende Glücksempfindung wahrgenommen werden, manchmal auch als Tatendrang oder als Zuversicht. Aufmerksamkeit ist die feinere Qualität Ihres Bewußtseins, die geistige Klarheit, Wachheit und Einsichtsfähigkeit bedingt. Der Begriff Kraft ist also nur als eine pauschale Zusammenfassung all dieser Aspekte zu verstehen.
Abladende Plätze oder Gebäude sind Stellen, an denen Sie Kraft abgeben und sich gleichzeitig erleichtert fühlen. (Ein gutes Beispiel sind Beichtstühle in der Kirche, oder Parks wie der nachfolgend abgebildete Englische Garten.)
Die andere Variante von Kraftabgabe ist das, was schwächend oder kräftezehrend genannt wird. Es ist interessant, beiden Varianten auf die Spur zu kommen und ihren Unterschied herauszufinden.
Kraftspendend:
Kabinettgarten bei Allerheiligen-Kirche;
entgegengesetzte Blickrichtung
Kraft entsteht durch Proportion, Material, Resonanz, Aufmerksamkeit. Hier, im Kabinettgarten der Münchener Residenz, wird die Kraft stabilisiert und nach innen geleitet: Ein Fluß nach außen findet indessen nicht statt. Der Ort dient daher zur Besinnung und inneren Sammlung. Auf fließende Kraft kommen wir gleich zu sprechen.
Auf den Gesichtspunkt Kraftfluß wurde bereits in anderen Beiträgen eingegangen, so
in
Grundelemente der Gestaltung (3) oder in
Kraftlinien in München und ihre Bedeutung für das Stadtleben.
Hier soll noch einmal präzisiert werden, woher der Eindruck strömender Energie kommt und wie er mit unterschiedlichen Gestaltungen verstärkt oder abgeschwächt werden kann. Zuerst einmal baut sich Kraft entlang größerer Achsen auf. Wichtig ist aber, daß diese Achsen nicht zu lang werden sollten, sondern daß bei der Anlage der betreffenden Lokalität darauf zu achten ist, daß ein auf- und abschwingender Rhythmus entsteht. Das kann durch Windungen geschehen oder durch Einfügung von Plätzen, Toren, Statuen oder Brunnen. Außerdem sind beide Seiten der Sichtachse durch wechselnde Eindrücke aufzulockern.
Obiges Foto zeigt eine der Hauptachsen der Stadt München, die Ludwig- bzw. nördlich daran anschließend die Leopoldstraße. Vom Standplatz, der Feldherrenhalle ausgehend, sammelt sich eine starke Energie. Sie steht in Beziehung zu den rechts und links flankierenden Gebäudegruppen. Man könnte von einer Prachtstraße sprechen, was auch historisch begründet ist (Militäraufmärsche zu dem im Hintergrund sichtbaren Siegestor). Wer diese Strecke aber zu Fuß abwandert, wird feststellen, daß seine Energie dort "versackt": Die stärkste Energie hat er noch am Odeonsplatz (Ausgangspunkt); ebenfalls eine starke Energie wird er in der Leopoldstraße wahrnehmen.
Der Grund hierfür liegt in der unterschiedliche Auflockerung der Achsenflanken. In der Ludwigstraße treffen wir rechts die helle, vertikale Kontur der Ludwigskirche an; ansonsten verlaufen die Fassaden recht monoton. In der Leopoldstraße dagegen wechseln sich Baumgruppen und Vorgärten ab, außerdem ist hier der Gebäudebestand wesentlich abwechslungsreicher.
Insgesamt hat München das Glück, über eine ganze Reihe solcher Flußachsen verfügen zu können: Neben der erwähnten wären auch die Maximilianstraße, die Prinzregentenstraße und die Brienner-/Nymphenburger Straße zu nennen.
Als konträres Beispiel möchte ich kurz auf die nachfolgend abgebildete Passage eingehen. Gleich daneben gibt es eine andere Anlage, die sogenannten Fünf Höfe, die kommerziell und vom Publikumsverkehr her recht gut florieren — diese Passage hier zeichnet sich jedoch meistens durch gähnende Leere aus. Woran liegt das?
Sogar schon aus dem Foto wird ersichtlich, daß hier kein Kraftfluß geschieht. Zwar gibt es Grün in Form von jungen Bäumen auf der linken Seite, aber diese Bäume nützen nicht, sondern hindern nur, weil sie zu groß sind und das Licht blockieren. Ferner sind von hier aus weder Wasseranlagen noch Farben zu sehen. Die lastende Betondecke und die klobigen Betonsäulen wirken wenig einladend. Da ist nichts, was den Passanten in diesen dunklen Schlauch aus Beton und Glas hineinzieht.
Zwar wirken die Backsteinfassaden des hinteren Hofes durchaus angenehmer, aber trotzdem passen die Proportionen nicht. Es gibt keinen Mittelpunkt, kein Ziel, d.h. die Kraft sammelt sich nicht. Was es auch immer im einzelnen sei: Mein Eindruck ist und bleibt der von Kraftlosigkeit.
Mit derartigen Beispielen könnte ich weiter fortfahren, und vielleicht gibt es demnächst mehr dazu hier zu finden. Je mehr man sich darauf einläßt, desto mehr Aufschlüsse gewinnt man und desto mehr Anschauungsbeispiele lassen sich entdecken. Ich finde es immer wieder interessant, herauszufinden, daß die meisten Menschen sich dieser Zusammenhänge völlig unbewußt sind. Oft geben sich z.B. Ladeninhaber die größte Mühe, Kunden auf ihr Geschäft aufmerksam zu machen — und bleiben doch gegenüber den ohnehin dort wirkenden Energiegesetzen völlig ohnmächtig.
Davon abgesehen wird derjenige, der zu spüren beginnt, was ihm gut tut und wo er sich wohl fühlt, vermehrt nach dieser Wahrnehmung gehen und sich schlechte Plätze einfach nicht mehr zumuten.
Aufgerufen sind in jedem Fall die Gestalter und Planer, die solche Örtlichkeiten schaffen und ausstatten. Selten tat das Wissen um die verborgenen Zusammenhänge, Hintergründe und Gesetzmäßigkeiten so not wie heute.
— Gerd-Lothar Reschke —
30.9./2.10.2003
Startseite |
GLR Bücher |
HTML5
Copyright © 2024 Gerd-Lothar Reschke |
Impressum |
Datenschutz