Der öffentliche Platz als Bedeutungs-Zentrum
Text und Graphiken von
Gerd-Lothar Reschke
Wenn Sie etwas erleben wollen, wenn Sie Leute treffen wollen — wohin gehen Sie dann? In die Kneipe? Zum Fußballspiel? Zum Pop-Konzert? Zum Einkaufen? In die Kirche? Zu einer politischen Veranstaltung?
Welche Möglichkeiten bieten sich in öffentlichen Gemeinwesen wie Siedlungen und Städten? Unsere öffentlichen Plätze wirken dürftig und banal.
Hier hat unsere heutige Gesellschaft nur eine sehr ausgedörrte Erlebnispalette anzubieten:
Bänke, Cafés, und sonst?
Und unter welchem Vorzeichen steht eine derartige Gestaltung? Steht ein Bedeutungsaspekt dahinter, und wenn ja, welcher?
Der Raum hat einen äußeren und einen inneren Aspekt. Der innere Aspekt ist Sinn, Aussage, Bedeutung.
Ein großer, zentral gelegener Platz in einer Großstadt ruft nach Bedeutung.
Bedeutung hängt mit Erleben zusammen.
Erleben kann sein:
Ein leerer Kreis. Keine Bedeutung; ein Vakuum.
Ein Kreis mit gestalteter Mitte (diverse Möglichkeiten). Die Gestaltung der Mitte weist dem Raum Bedeutung zu.
Ein Kreis mit offener Mitte: Raum für Gestaltung eines Ereignisses — das Ereignis ist die eigentliche Mitte. Ein Ereignis, das stattfand, klingt auch später nach. Jedoch ist stete Wiederholung nötig.
Mögliche Mittelpunkte:
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Monumentale Statuen (besonders beliebt im 19. Jhdt.) okkupieren den Raum und dessen Bedeutung
(Monarchen, Feldherren, Patriarchen — bezeichnenderweise fast immer Männer). |
Wohltuend harmonisierende Wirkung; eher dekorativ, nicht besonders bedeutsam.
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Der Raum wird leergelassen. Diesen Typus treffen wir häufig an. Er zeigt auf beklagenswerte Weise das vorherrschende Defizit an Kreativität und Gestaltungsfantasie. Auf solchen Plätzen kann in der Regel auch gar nichts passieren, da ein Geschehen nicht beabsichtigt und daher auch nicht durch eine entsprechende Gestaltung unterstützt wird.
Unterscheidet sich vom vorigen Typ dadurch, daß eine
Sinngebung hinzukommt: Es kann sich etwas ereignen.
Mögliche Beispiele:
Musik, Konzert, Tanz, Kinderspielplatz.
Mögliche Bedeutungen:
Treffpunkt, Ort der Begegnungen.
(Regelmäßigkeit: z.B. jeden Tag zur selben Zeit oder
jede Woche zur selben Zeit;
es wird von der Stadt jemand beauftragt,
z.B. ein Glockenspieler)
Beispiele:
Leicht abgegrenzter Platz, z.B. erhöht oder vertieft oder mit Grenzsteinen markiert,
Bankreihen,
Überdachung, z.B. durch Zelt, Glas-/Kunststoffdach
Diese Gestaltungsvariante bietet sich als Veranstaltungsort für Konzerte und Tänze an und erfordert eine entsprechende Programmatik.
Dieses Beispiel zitiert den Prototyp des keltischen Steinkreises.
Derartige Anlagen erzeugen eine eigentümliche Wirkung:
Zwar handelt es sich nur um einfache, zumeist roh belassene Steinmale,
aber durch bewußte Gestaltung der Proportionen entsteht eine Art
Energieschwingung und -Verstärkung. Der Platz wird für den Menschen lebendig.
Es handelt sich um einen nichtrationalen, nicht-intellektuellen
Eindruck — nähere Interpretationen entzieht sich dem Verstand.
Und doch spielt sich etwas ab, was mit Kraft zu tun hat. |
Ein Kreis von Bänken erscheint nicht spektakulär, aber selbst er kann zu Begegnungen führen, die in anderen Arrangements nicht zustandekämen. Wichtig ist hierbei der Durchmesser des Bankkreises. |
Eine Umpflanzung durch Hecken, Büsche oder Bäume unterstreicht den Charakter der Anlage, wirkt angenehm und steigert das Wohlbefinden. Der Rücken der Sitzenden wird nach hinten abgedeckt und geschützt; man fühlt sich nicht ausgesetzt. |
Mehrere Bankreihen lassen den Ort zum Veranstaltungsort werden, etwa für Musik- und Theateraufführungen. |
Hier mischen sich bereits vorgestellte Typen:
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Ein Zeltdach schützt nicht nur den Platz gegen das Wetter
(Regen, starke Sonne, z.T. Wind), sondern trägt dazu bei,
ihn als Versammlungsplatz wahrzunehmen und zu akzeptieren.
In Cortina d'Ampezzo befindet sich solch ein überdachter Platz vor der Kirche in der Mitte des Corso und stellt so ein natürliches Zentrum des Ortes dar; auf ihm finden in der Sommerzeit öffentliche Konzerte statt; und selbst ohne Veranstaltungen treffen sich hier gerne die Menschen. |
Kombination mit bereits vorgestellten Merkmalen, z.B. dezentrale Springbrunnen oder Teichanlagen. |
Weiteres Beispiel für Kombinationsmöglichkeiten.
Derartige Gestaltungen eines Platzes drücken mehr aus als nur beliebige Spielarten der Raumstrukturierung. Sie sind symbolisch. Wie in den Anmerkungen zur aktuellen Architektur beschrieben wurde, reflektiert sich der innere Zustand der Gesellschaft in der Art und Weise ihrer architektonischen Aussagen. Die Gestaltung eines Platzes ist eine Gestaltung der Kraft dieses Areals, der Kraft der Menschen, die sich dort aufhalten. Alles zusammen ist ein einziges Instrument, das richtig gestimmt werden muß.
Die Frage der Gestaltung des offenen Platzes erweckt die
Frage nach dem Ritual.
Aspekte des Rituals:
Es ist denkbar und realisierbar, auf Plätzen dieser Art Veranstaltungen abzuhalten, etwa in regelmäßigem wöchentlichen Turnus:
Suchen wir unter Anwendung der hier betrachteten Aspekte einmal Beispiele für Plätze mit Bedeutungshintergrund, so finden sich weniger als erwartet. Denn nur selten sind Bedeutungen gegeben, die Plätze besonders auszeichnen. Einige klassische Beispiele wären:
Als geografischer Mittelpunkt des Christentums finden wir hier eine imposante Inszenierung der religiösen Festlichkeiten des Christentums vor.
Der einzigartige Stadtstaat zelebrierte hier seine Kultur und Lage.
Einmal im Jahr findet in der malerischen Atmosphäre dieses Platzes ein historisches Kostümspiel statt, dessen Ausstrahlung auch in der übrigen Zeit stets noch nachklingt. Dieser Palio, ein stürmisches Wettreiten, wird bereits seit dem 12. Jahrhundert ausgetragen.
Ein gutes Beispiel für einen wunderschönen Platz, der jedoch mehr von der Atmosphäre der ihn umgebenden Gebäude lebt als aus sich selbst heraus. Das im Pflaster angedeutete Rund lädt nicht zum Verweilen ein — ganz im Gegenteil: Man wird es schnell passieren wollen, um sich nicht bloßgestellt zu fühlen. Die Bänke sind mager und unzusammenhängend eingesetzt und es fehlt eine Umfriedung, die Geborgenheit hervorzurufen vermöchte.
Man spricht davon, daß dieser Platz ursprünglich das ungefähre Zentrum des
frühen Roms gewesen sei.
Seine Form resultiert daher, daß hier einmal antike Wagenrennen stattfanden.
Obschon sehr langgestreckt, ist die Atmosphäre des Platzes bemerkenswert
kompakt. Die drei Brunnen stellen eine ideale Spannungsverteilung zwischen den Polen her, die
außerdem durch Cafés und Kirchen aufgelockert und belebt wird.
Im Sommer ist dieser Platz ein Anziehungspunkt erster Güte, mit Gauklern, Portraitzeichnern,
Musik und Promenierenden.
Man muß immer berücksichtigen, wie wichtig es ist, keinen störenden Durchgangsverkehr auf solchen Plätzen zu haben — aus ganz naheliegenden Gründen. Ebenso sollten natürlich Sitzgelegenheiten in ausreichender Zahl vorhanden sein.
Sämtliche genannten Beispiele beziehen ihre eindrucksvolle Kraft aus Traditionen, die in Jahrhunderten langsam gewachsen sind. So etwas läßt sich heute nicht locker hervorzaubern, aber man kann davon lernen. Etwa indem man erkennt, wie wichtig und notwendig festliche Riten für das Empfinden, ja die gesunde Ausgeglichenheit der Menschen einer Kultur sind. Genau so wichtig aber ist der Platz, auf dem sie stattfinden.
— Gerd-Lothar Reschke —
13.8.1997
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