Eine spirituelle Perspektive für das Bauen
Text von
Gerd-Lothar Reschke
Im Winkel einer Autobahnverzweigung am Münchener Flughafen im Erdinger Moos befindet sich eine eigenartige Gruppierung von Erdwällen. Von der Straße aus ist nicht erkennbar, worum es sich handelt, jedoch
mit Blick aus einem darüberfliegenden Flugzeug:
Es ist ein Kunstwerk, genannt "Erdzeichen".
Ich könnte mir verschiedene Reaktion hierauf vorstellen: Manche werden es vielleicht als dekorativ empfinden, andere als überflüssig — der eine wird sagen, es handele sich um moderne Kunst, der andere, es ähnele einem vorzeitlichen, vielleicht keltischen Symbol. Die meisten jedoch werden darin vermutlich eine "Kuriosität am Rande" sehen und es schnell wieder vergessen. In unserer heutigen Zeit scheint für so etwas kein Platz mehr zu sein, denn worin soll schon der Nutzen bestehen? Man kann sich sogar wundern, daß so etwas heute überhaupt noch möglich ist.
Ich möchte diese Art Zeichen stärker in Ihre Aufmerksamkeit
heben. Alle Gedanken, die Sie hier nun finden werden, stellen eine ganz un-alltägliche Sicht dar; sie werden den einen oder anderen vielleicht erstaunen oder verärgern,
sie werden provozieren — aber eines werden sie gewiß nicht tun:
auf bekannte Wahrnehmungskategorien Bezug nehmen.
Mir geht es um eine fundamentale Umdeutung — ich sage:
Wir brauchen solche Kraft-Zeichen.
Aber was ist das eigentlich — ein "Kraftzeichen"? Ganz einfach: Ein Kraftzeichen ist ein Zeichen,
das Kraft hat.
Sie verstehen mich nicht? Sie sagen, Sie wissen nicht, was Kraft ist? Genau deshalb brauchen wir Kraftzeichen! Fragen Sie mich bitte nicht nach einer logisch-rationalen Definition des Wortes
Kraft. Kraft ist ein Gefühl, ein direktes, unmittelbares Wissen.
Sie spüren es — oder Sie spüren es nicht.
Es gibt heute fast keine Kraftzeichen mehr. (Aufmerksame Beobachter
werden auch einen Zusammenhang zu der Tatsache entdecken, daß Kraft
nicht dem modischen Zeitgeist entspricht, ja verpönt ist.) Früher gab es Kraftzeichen: vor allem zur Zeit der keltischen Kultur, einer Kultur, die unser Urahn war, ebenfalls verpönt wurde, nämlich von der christlichen Kirche, von dieser bis aufs Blut bekämpft und zerstört worden ist, so daß
kaum noch Überreste davon zu finden sind, jedenfalls nicht im Bereich des
gewöhnlichen Alltagsinteresses.
Um zu begreifen, womit wir uns hier beschäftigen, ist es nötig, die rein
äußerliche Sicht abzulegen. Wenn wir uns selbst als Beobachter aus der
Betrachtung heraushalten, wird das Betrachtete entzaubert, es kann zwar analysiert und vermessen und
interpretiert werden, löst aber keine echte Wirkung mehr aus — es ist kastriert worden. Ich werde Ihnen dies alles anhand der keltischen Bauwerke näher erläutern.
Keltische Bauwerke sind ausgezeichnete und sehr anschauliche Beispiele für Kraftzeichen, nämlich für Anlagen mit Kraft.
Wer sich gründlich und gewissenhaft mit keltischen Bauwerken auseinandersetzt, dem eröffnet sich eine sehr interessante Perspektive:
Diese Anlagen stellen ein Bindeglied von äußerer und innerer Wahrnehmung dar.
Man kann ohne Übertreibung von einer sehr subtilen, bis ins feinste abgestimmten Psychologie der ganzheitlichen Wahrnehmung sprechen, oder wenn Sie so wollen: einer Technologie des Gewahrwerdens.
Das beginnt mit der Lage dieser Plätze.
Sie befinden sich stets an ganz präzise gewählten Punkten der
Landschaft. Von dort aus ist oft eine besonders bevorzugte Betrachtung der Umgebung möglich.
Es besteht ein ausgewogenes Zusammenspiel natürlicher Gegebenheiten wie
Berggipfel, Hügel, Flüsse oder Bäche und auch Felsen oder herausragenden
Steinen. Manchmal auch Bäumen mit besonderer Charakteristik.
Zugleich aber erzeugt diese Lage, dieser ganz spezielle Orts-Punkt im Betrachter einen ganz bestimmten Eindruck, ein Gefühl, ja eine Stimmung.
Mag man dies bei einer der ersten Begegnungen mit solchen Anlagen
oder Bauten noch für Zufall halten, so stellt sich beim Besuch
mehrerer derartiger Orte und aufmerksamem Öffnen der
eigenen Wahrnehmung heraus, daß das Aufkommen
eines persönlichen Empfindens, eines inneren Eindruckes beim Betrachter
von vornherein bewußt intendiert gewesen ist und den
eigentlichen Sinn und Zweck des ganzen Arrangements ausmacht.
Stets ist dieser Eindruck etwas Stilles, ein ganz merkwürdig anrührendes Gefühl von Ruhe und Zufriedenheit, von Harmonie. So befinden sich diese Plätze selten auf den höchsten und
extremsten Berggipfeln, sondern meist an eher unaufdringlichen
Orten. Nicht das Krasse und Aufsehenerregende ist ihre Natur,
sondern etwas eher Verstohlenes, in seiner hintergründigen Präsenz vergleichbar
den Tieren im Walde, die erst hervorkommen, wenn sie sich
vor Sensationslüsternheit sicher fühlen.
Und doch ist immer eine ganz gezielte Absicht erkennbar, etwas,
das bei wiederholtem Aufsuchen solcher Plätze fühlbar an
Wert gewinnt und leise, aber nachhaltig von einem
präzisen Wissen kündet. Um welche Art von Wissen handelt
es sich da?
Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als um eine Kunst der Wahrnehmung. Hierzu einige grundlegende Bemerkungen:
Man kann drei verschiedene Wahrnehmungs-Modi unterscheiden,
die ich hier einmal schematisch zu skizzieren versuche:
Meiner Beobachtung nach ist das Wissen um die besondere Harmonik des 3. Modus inzwischen leider verlorengegangen und in Vergessenheit geraten. Man findet nicht einmal mehr
die Unterscheidung in verschiedene innere Wahrnehmungszustände,
sondern westliche Architektur, Gartenbaukunst und Städtplanung
beschränken sich wie selbstverständlich auf den 1. Modus.
Hingegen finden wir in der vom Zen-Buddhismus inspirierten japanischen Gartenkunst genau diesen 3. Modus in wundervoller Ausprägung.
Das Wissen um die hier waltenden Gesetzmäßigkeiten reichte auch im Westen viele Jahrhunderte zurück. Sie würden sich wundern, wieviele Zeugnisse dieses spirituellen Kulturverständnisses Sie noch überall unaufdringlich in unsere Landschaft eingewoben finden:
ruhige, mahnende Wächter einer anderen Welt, die vergessen scheint und
doch, selbst nach Tausenden von Jahren, noch immer lebendig ist — wenn man erst einmal wieder hierauf zu achten beginnt.
Das Kraftzeichen zieht nicht Aufmerksamkeit vom Betrachter ab, sondern reflektiert sie zurück und verstärkt sie.
Das Wissen um diesen Zusammenhang ist heute so verschütt gegangen, daß man sich nicht einmal mehr die Mühe macht, zu betrachten, wie moderne Bauwerke auf den Betrachter wirken — da geht es oft nur noch darum, daß sie irgendwie "interessant" oder "eindrucksvoll" genug wirken sollen, wenn überhaupt (und nicht nur nützlich). Daß durch "höher", "größer", "teurer" und "moderner" letztlich keine sonderlich subtile Wirkung erzielt wird, braucht wohl nicht weiter begründet zu werden.
Es sind Maß, Proportionen, Ausrichtung und Relation zur Umgebung und nicht zuletzt Relation in bezug auf den Menschen selbst, die entscheiden.
Untersuchen wir einmal anhand von Beispielen genauer, wie man sich fühlt
angesichts der verschiedenen Anlagen und Architekturen.
Da ist zum einen der wichtige Aspekt der Mitte.
Auch dieser wieder korrespondiert zu einer inneren Wahrnehmung. Ein Mensch mit innerer Mitte, bzw. ein Mensch, dem seine eigene innere Mitte wichtig ist, verfügt über eine hierzu korrespondierende
Unterscheidungsfähigkeit auch in bezug zu einer äußeren Situation.
Da gibt es Gebäude oder Anlagen, die ebenfalls eine
innere Mitte aufweisen und die auf diese innere Mitte hin
orientiert sind. Wer sich z.B. am Schloß von Versailles
aufgehalten hat, wird kaum daran vorbeigekommen sein,
auch in sich selbst eine starke korrespondierende Wahrnehmung von
Zentriertheit und Bezug empfunden zu haben.
Zur Mitte korrespondierend findet sich das unterstützende Merkmal
der Achse oder Orientierung.
Frühere Anlagen von Schlössern, Regierungsgebäuden und
wichtigen Straßenzügen verfügten über dieses Merkmal nicht nur
aus praktischen Erwägungen heraus. Sondern auch zu diesem Aspekt
findet sich eine Entsprechung im inneren Zustand des Betrachters.
Vergleichen Sie einfach die architektonische Achse mit dem
in den obigen drei Diagrammen benutzten Pfeil. Stellen Sie sich
vor, Sie stünden in einer Stadt am Ende einer entsprechend
ausgerichteten Straße oder Anlage. Nun können Sie auch hier
die Aufmerksamkeit in beiden Richtungen orientieren:
Interessant ist, zu beobachten, in welcher Weise oft bestimmte Gebäude entlang dieser Achse positioniert sind. Man kann sich z.B. vorstellen, daß entlang der Achse eine
Art Energie aufgebaut wird (freilich nicht äußerlich meßbar,
sondern innerlich, im Betrachter, subjektiv wahrnehmbar), die dann in bestimmten Abständen plaziert sind, die wiederum der Wahrnehmung einer bestimmten inneren Verhältnismäßigkeit folgt.
Falls Sie an ein paar Beispielen zur Veranschaulichung interessiert sind:
Wer dieses Wissen mit eigener Wahrnehmung wiederentdecken und
an klassischen Beispielen reichlich studieren konnte,
muß dann den Schock verkraften, zu sehen, was heute daraus geworden ist.
Es ist nämlich auf eine Weise vergessen, ja verraten worden, daß es einem
nur graut! Natürlich hat das tiefere Gründe — ich sagte bereits,
daß Kraft verpönt ist.
Überall werden Sie moderne Zeugnisse architektonischer
Unschlüssigkeit, Verwirrtheit und Menschenverachtung finden, sei es in
Wohnanlagen, in denen in perfektem Nachvollziehen zeitgemäßer Trends
das Zentrum der Aufmerksamkeits-Energie der Anlage
aus Müllcontainern oder Garagen besteht, sei es in Bürohäusern,
deren aalglatte Fassaden und in ihrer unharmonischen Proportion
brüskierend wirkenden Silotürme jedem Betrachter deutlich signalisieren,
daß er in diesem Kontext nun wirklich keine Rolle von Wert oder Bedeutung mehr zu spielen hat.
Stattdessen nützt es umso mehr, sich klarzumachen, daß es hier nicht
nur um bauliche Geschmacks- oder Zeitgeist-Fragen geht, sondern
um etwas viel Wichtigeres: Nämlich eine neue Fundierung unserer
Wahrnehmung anhand einer bewußteren Gestaltung der äußeren Lebensumgebung.
Ruft man sich die wichtigsten Prinzipien und Zusammenhänge wieder
ins Bewußtsein, so stellt sich bei jedem neuen Projekt bzw. bei der
Umgestaltung bestehender Umgebungen immer von neuem die Frage,
ob diese im Sinne der Menschen verstanden und berücksichtigt werden.
Jede solcher Entscheidungen ist äußerst wichtig, weil sie
auf unser Lebensgefühl unmittelbar und langfristig
zurückwirkt.
Das Thema Kraft löst bei Ihnen negative Assoziationen aus?
Ihnen kommen Bedenken, eine derartige Auffassung von Baukunst und
Gestaltung der Umwelt sei "undemokratisch" — zentrale Ausrichtung auf
eine Mitte sei "faschistoid" und dergleichen?
Dazu nur einmal, und sehr kurz: Vergessen Sie es — es ist nicht wahr.
Kraft wird immer einigen zuwider sein, so wie einige immer Sauberkeit
als "neurotisch" empfinden werden oder Klarheit als "puritanisch" oder
irgendetwas Gutes als "Beleidigung für den kritischen Menschen" usw.
Es ist klar, daß sich hier die Geister scheiden, und vielen
mag das alles zu sehr unter die Haut gehen.
Das ist immer so, und wenn es nicht so wäre, dann wäre die Aussage nicht
prägnant genug.
Interessant ist, daß die angeblich "zur Demokratie passende" Auffassung
dezentrale Arrangements bevorzugt, bei denen vieles nebeneinandersteht,
aber nichts hervorsticht. Alles soll irgendwie gleichberechtigt neben etwas anderem auftreten,
aber nichts weist auf einen hervorgehobenen Orientierungswert hin.
Die Wirkung solcher Anordnung ist zerstreuend, manchmal unterhaltsam heiter,
manchmal auch nur verwirrend und belanglos.
Solche Gestaltungen haben keine Aussage mehr und bewirken auch nichts weiter.
Sie sind nett, harmlos und unwichtig. Sie tun keinem weh, provozieren niemand,
aber genau deshalb lösen sie auch nichts aus.
Sie ducken sich ängstlich, um nicht aus dem Massengeschmack
hervorzuragen. Eine Zeit, die solches Duckmäusertum zum Standard
erhebt, wird kein Erbe von Wert hinterlassen — sie setzt kein
Zeichen — und die in ihr lebenden Menschen vegetieren perspektivlos
und ratlos vor sich hin. Das sind dann die gleichen Menschen, die
auf alles feindselig reagieren, was aus dem müden Einerlei hervorlugt —
denn es bedroht die Anpassungsleistung, die sie sich mühsam abgerungen haben.
Kraftzeichen, Bauten mit Kraft können unserer Gesellschaft eine neue Perspektive eröffnen.
Eine Perspektive der sinnvollen Zukunftsgestaltung, und zugleich
eine zutiefst spirituelle Perspektive — da sie Inneres und
Äußeres zu einer sich gegenseitig verstärkenden Harmonie zusammenführt. Um wieder in diese Richtung gehen zu können, werden wir Mut brauchen.
— Gerd-Lothar Reschke —
20.9.1997
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