Wichtiger Grundlagentext zum Verständnis des Anliegens dieses Architektur-Journals
Text von
Gerd-Lothar Reschke
Was ist Architektur? Nicht nur funktionale Einrichtung der Wohn- und Lebensumgebung der Menschen.
Sondern stets auch Symbol, Sinngebung (oder Sinn-Abwesenheit), Verstärker:
Das Innere der Menschen reflektiert sich in der Architektur als Äußerem, von wo es wieder zurückwirkt auf das Innere.
Nur wenn diese Wechselwirkung begriffen und befruchtend gestaltet wird, repräsentiert unsere Architektur Wertverständnis.
Nichts anderes, was der Mensch tut, hat eine so allgegenwärtige und weitreichende Bedeutung.
In einer Zeit wie der heutigen ist Baukunst am ärmsten dran.
Kein Geld, keine Perspektiven und Ideen, kein Interesse. Alle schreien durcheinander. Nichts kommt mehr zustande. Ein Spiegel für den desolaten Zustand der Gesellschaft.
Hier noch Ideen bringen zu wollen, erscheint beinahe als wahnwitzig, als völlig verrückt und unverschämt. Aber schlimmer kann es ja nicht mehr werden. Und warum nicht ausgerechnet einmal das Verrückteste, Abwegigste von allem bringen? — Ideen zum Bauen nämlich!
Wo im Klein-Klein der die Straßen und Plätze verkrüppelnden
Pföstchen, Mäuerchen und Stolperschwellen noch die letzten Ressourcen versenkt und beerdigt werden und
so etwas als Erfolg des Umweltschutzes gefeiert wird — wo Recycling-Container mit religiöser Inbrunst als Schreine der modernen Gesinnung verehrt und mit entsprechendem Stolz auf die wichtigsten Stellen der öffentlichen Räume postiert werden — wo das Verlängern von Ampeln-Rotphasen als Zeichen von sozialer Einstellung und mutiger Zukunftsorientierung gefeiert wird und niemand mehr merkt, daß bloß noch der spießige Irrwitz durch die Straßen galoppiert, muß es gewiß als Gipfel der Ungeheuerlichkeit erscheinen, ganze weitflächige Plätze, langachsige Fluchten oder noch viel durchgreifendere Großbauten überhaupt noch zu erwähnen. Und sich damit dem sofort wie ein Pawlow-Reflex
ausgelösten Vorwurf des faschistoiden Machtkultes auszusetzen.
Nur zu: mobilisiert alles Entsetzen, alle Entrüstung, schärfste Kritikbereitschaft! Die Augen sollen euch übergehen, und vielleicht führen Wut und Zorn einmal zum seit Jahren erstorbenen tiefen Durchatmen.
Die Geschichte der zeitgenössischen Architektur deutscher Städte ist eine
Wiederspiegelung von Feigheit und Geistlosigkeit.
Sie symbolisiert eine Selbstblockade des heutigen öffentlichen Lebens,
hinter der sich ein gähnender Abgrund von Bedeutungsleere und Inhaltslosigkeit verbirgt.
Überhaupt noch Bauen zu erwähnen, muß denjenigen bereits als
größte Sünde erscheinen, die am liebsten überall Wiesen und Wälder sehen würden, auch in ihren Städten. Denn dieser Menschentyp schämt sich im Grunde, Kulturmensch zu sein, und wäre lieber Naturmensch, bzw. was er sich als solchen erträumt. Dieser Naturmensch (wir kennen ihn von Rousseau,
aber daran erinnert man sich heute kaum noch) ist nichts anderes als eine blasse Negativschablone des aktuellen Menschen der technischen Zivilisation.
Dieser zivilisierte Mensch haßt im Grunde die Technik, gerade weil er sie
so sehr braucht und benutzt. Aus dieser Verleugnung
projiziert er sich ein Anderes, das es nie gab und nie geben wird.
Diese Art Mensch ist heute in der Überzahl. Sie gibt sich "ökologisch" und "kritisch-aufgeklärt", spricht von Alternativen, hat aber keine und sucht nicht mal welche.
Während sie im Brustton der Überzeugung von Naturschutz spricht und sich
über Vergiftungen und andere Schandtaten ereifert, greift sie ohne weiteres
Nachdenken zur Zigarette
und inhaliert tief deren Rauch, um sich wenigstens kurzzeitig entspannen zu können.
Man sollte diesen Phantommenschen nicht zu ernst nehmen, denn er bringt nichts zustande und kann nichts befruchten. Im Grunde gefällt ihm das auch, sonst würde er es ändern.
Architektur ohne Bedeutung und Aussage ist Architektur ohne Kraft.
Alte Architektur bezog Kraft aus traditionellen Inhalten.
Die neue Architektur eines befreiten Geistes erzeugt eigenständig Kraft durch kraftvolle Gestaltung.
Es geht um mehr als nur um Gebäude, Plätze, Straßen.
Um mehr als nur um etwas, das den äußeren Raum irgendwie füllt.
In der Art und Weise ihrer architektonischen Aussagen reflektiert sich der innere Zustand der Gesellschaft. Kraftlose, beliebige und bloß dekorative oder intellektuelle Planungen und Bauten
vermitteln den Menschen, die auf Jahrzehnte oder gar länger damit zu leben haben,
Gefühle der Desorientierung, Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Aber genau so, wie Anlagen und Bauten den Menschen leerer machen können, können sie ihm auch Kraft geben, ihn energetisch aufladen, ihn stärker und zuversichtlicher machen.
Architektur ist magisch — aber kennen wir nur die negative Seite dieser Magie? Kennen und nutzen wir die positive Seite?
Die Regeln und Gesetze kraftvoller Gestaltung zu studieren, ist nicht nur lohnenswert, sondern von überragender, auch symbolischer Bedeutung. Denn hier entscheidet es sich, unter welchem Vorzeichen die menschliche Gemeinschaft zu leben gewillt ist.
Sobald wir damit beginnen, in dieser Art wahrzunehmen und die damit verbundenen ungewohnten Gedanken zu denken, geraten wir in krassen Konflikt zu den in diesem Jahrhundert gültigen Schablonen der Wahrnehmung und Gestaltung. Es ist deshalb notwendig, auf diese noch einmal genauer einzugehen und sich darüber klarzuwerden, welche Prinzipien hier zugrundeliegen. |
Was tun wir, wenn wir uns mit Architektur, Baukunst, Stadtplanung beschäftigen?
Geschieht da nicht automatisch, fast zwanghaft, ein Rückgriff in die Historie?
Saugen wir nicht mit pflichtgemäßem Fleiß das erreichbare Wissen über Gattungen, Stile und Bauformen der Vergangenheit in uns auf? Ich denke, keiner wird abstreiten: Dieses Vorgehen gilt als so selbstverständlich, daß so gut wie keine Ausnahme anzutreffen ist. Unterschwellig eignen wir uns die These an, der heutige Mensch verfüge über die Quintessenz des Wissens, wie zu bauen sei.
Und so hat sich bereits in den ersten Schritten einer geistigen Annäherung an das Thema eine ganze Menge ereignet. Eine Vielzahl von entscheidenden, alle weiteren Aufschlüsse bestimmenden Annahmen ist bereits in Kraft getreten, still und heimlich, den meisten unbemerkt. Es hat ein Einschwingen auf eine ganz bestimmte Übereinkunft stattgefunden. Dieses Einschwingen bedeutet:
Wir haben die Sichtweise anderer übernommen und verinnerlicht, bevor wir überhaupt selbst etwas gesehen, wahrgenommen und nach eigenem Wertempfinden unterschieden haben. Wir sind durch die Kulturgeschichte der Menschheit hypnotisiert worden. Und alles, was wir nun denken, folgt dieser Hypnose. |
Ich werde nun versuchen, den Schleier dieser Hypnose etwas zu lüften. Ein guter Weg, um dahin zu kommen, besteht in einfachen, fast kindhaften Fragen — Fragen, die ganz harmlos wirken und deren Berechtigung man nicht so ohne weiteres bestreiten kann. Unterschätzen Sie diese Fragen aber nicht!
Fangen wir doch hiermit einmal an:
Warum wird jetzt so gebaut?
|
Einfache Frage, aber komplizierte Antwort oder gar keine Chance auf Antwort? Im Gegenteil! Auch die Antwort ist sehr einfach:
Heute wird entsprechend der heutigen Denkweise gebaut. |
Ich möchte diese Denkschablone nun genauer beschreiben und qualifizieren.
Ein wichtiges Schlagwort in der modernen, zeitgenössischen Architektur heißt Funktionalismus.
Was ist Funktionalismus? Es handelt sich um eine Bewegung, die zu Beginn des Jahrhunderts die Baukunst befreien wollte vom ornamenthaft verzierten, gekünstelten, überkultivierten Stil früherer Epochen. Diese Veränderung trat im Gefolge der rasanten Entwicklung der Technik auf: Es wurde nun möglich, im industriellen Stil der
rationalisierten, automatisierten Produktion, der Serienfertigung und
der großen Stückzahlen Bauten und ihre Bestandteile zu fertigen.
Dies bedeutete eine Hinwendung zu ingenieurhaften Erscheinungsformen:
Klare Fassaden, würfelförmige Gebäude, wiederkehrende Reihenhäuser,
geometrisch-eckige Konturen. Schnell wachsende Städte und infolge der Weltkriege
explosionsartig anwachsender Wohnbedarf erzwangen geradezu diese
industrielle Bauweise. Außerdem diktierte der Massenverkehr eine ihm entsprechende
Flächen- und Raumplanung.
Aber es gibt einen anderen Faktor, der beinahe noch prägender wurde:
Der Gleichheitsaspekt der modernen Demokratie.
Die regelmäßige Aneinanderreihung von Wohn- und Büroeinheiten
versinnbildlichte geradezu exemplarisch diesen Aspekt.
Keine Einheit sollte übergeordnet sein, alles sollte gleichwertig
in Erscheinung treten. Der Mensch wurde zur Ameise.
Industrielle Produktionsweise und politische Aussage fanden zu einer beispiellosen architektonischen Synthese: Streng funktionale Serienbauweise. Nüchternheit und Abwesenheit von Verzierung wurde (siehe Neue Sachlichkeit) zum ästhetischen Prinzip stilisiert.
Beispielhafte Einflüsse des modernen Stils:
Das Konzept:
Hat man dieses bereits 1922 von Le Corbusier in seinem Manifest VERS UNE ARCHITECTURE artikulierte Schema erst einmal identifiziert, so läßt sich dessen Durchführung in einer überwältigenden Vielzahl von Wiederholungen leicht studieren und beobachten.
Diese rechtwinklige, kastenförmige und kühl wirkende Bauweise ohne Mitte und Richtung
wird inzwischen allgemein als gleichbedeutend mit dem Begriff der Modernen Architektur angesehen.
Wem kommen diese Formen nicht bekannt vor?
Nachdem das Konzept in seiner ganzen Totalität
konsequent und in globalem Ausmaß angewandt wurde —
und damit der Schaden schon endgültig angerichtet war —
machte sich erst langsam das Gefühl breit, hier einer grandiosen Irreführung aufgesessen zu sein.
Jeder, der so empfand, sah sich jedoch mit dem Dogma konfrontiert,
nicht modern, sondern rückschrittlich genannt zu werden.
In seiner Schrift pries Le Corbusier seine Betonsilos
noch wie folgt:
Diese Türme werden künftig die Arbeit beherbergen, die bisher in übervölkerten Bezirken und engen Straße erstickte...
Diese Türme, die in großem Abstand von einander aufgerichtet sein werden, besitzen an Höhe, was bisher die
Ausdehnung ausmachte; sie lassen riesige Räume zwischen sich frei, welche die lärmerfüllten Hauptstraßen mit ihrem erhöhten Schnellverkehr weit von sich schieben. |
Hätte man sich auf das authentische menschliche Empfinden angesichts derartiger
Modelle verlassen, statt blind dem strikten Diktat rein rationaler Projektionen nachzufolgen,
so wäre deren kalte und menschenfeindliche
Ausstrahlung viel früher erkannt und benannt worden.
Aber es hat sich hier eben, wie ja eingangs bereits gesagt wurde,
nicht die Wahrnehmung und nicht das Wissen, sondern
die modische Denkschablone durchgesetzt.
Wie in Hans-Christian Andersens Märchen von "Des Kaisers neuen Kleidern" hat wohl keiner gewagt, etwas dagegen vorzubringen, um nicht als dumm (= "rückschrittlich" und "unmodern") hingestellt zu werden. (Damit tritt die Manipulation nämlich in Kraft, wie das Gleichnis zeigt.)
Entsprechend dieser Logik führte diese Sichtweise zu einem regelrechten Stildiktat.
(Noch heute stellt der Satz »Form follows function« unter Designern eine Art letztgültiges Glaubenscredo dar.) Die ganze weitere Entwicklung schien nach logisch schlüssigen Gesichtspunkten abzulaufen: Sieg der Moderne, Ersparnis durch Reduktion aufs Wesentliche, ausreichende Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse, zukunftsträchtige Zweckbestimmung bei euphorischen Hoffnungen auf ein neues, besseres, glücklicheres Zeitalter der materiellen Sicherheit.
Hinter dem Funktionalismus verbirgt sich der Mythos der Gleichheit.
Hinter der Serienproduktion steckten nicht nur Nützlichkeitserwägungen oder ästhetische Grundsätze. Der moderne Stil war nur die äußere Form einer inneren Dogmatik: Gleichheit als oberstes humanes und Gesellschaftsprinzip. Hier geschah eine plumpe und gewalttätige Fehlinterpretation der
Gleichberechtigung. Ein einzelner Teilaspekt wurde verabsolutiert und verallgemeinert.
Gleichheit wurde das neue Klischee einer angeblich demokratischen Architektur:
Abweisung aller Bündelung und Konzentration, Austilgung jeglicher Mitte — damit aber auch Verlust der Bedeutung. So steht die heutige Zeit noch immer im Banne des Faschismus — nur mit negativem Vorzeichen.
Gleichheit ist nicht wahrgenommene Realität, sondern ein der Realität willkürlich aufgepfropftes intellektuelles und ideologisches Postulat.
In Wahrheit ist überhaupt nichts miteinander gleich — alles ist verschieden
— und das ist auch gut so.
Gleichheit als manipulierende Schablone aber führt zum Einebnen aller
Unterschiede, aller charakteristischen Merkmale, vor allem in bezug auf Qualität.
Gleichheit ist also gar nicht Gleichberechtigung, sondern Kampf gegen Andersartiges, gegen nicht Erwünschtes.
Das heutige Bauen ist nichts anderes als eine Projektion dieser immer noch geltenden geistigen Schablone auf die Gestaltung der Umwelt.
Dabei wird automatisch unterstellt, eine zentrale Orientierung bedeute Feudalismus oder Faschismus, also Herrschaft weniger über viele,
und eine dezentrale Orientierung bedeute Pluralismus. Wer zentrale Elemente vorschlägt, bekommt es mit (selbsternannten) Demokraten zu tun, die sich umso demokratischer fühlen, je mehr sie ihn bekämpfen. Während sie ihre Wut, die sie auf ihn projizieren, in sich selbst spüren, vermeinen sie ihre demokratische Grundgesinnung zu spüren.
Sie verwechseln beides miteinander. Auf dieser Verwechslung zweier Empfindungen bzw. deren Fehlbenennung beruht ein Großteil dessen, was sich heute "öffentliche Auseinandersetzung" und "politisches Bewußtsein" nennt.
Und da die Leute, die dieser Selbstäuschung erliegen, in der Mehrheit sind, hat auch so gebaut zu werden. Alles andere trifft auf vehemente Gegnerschaft. Es fällt schwer, die Tatsache anzuschauen und zu ertragen,
daß ein einziger simpler Denkfehler so viel anrichten kann.
Schaut man sich unsere heutigen Städte an, reibt man sich angesichts der Konsequenz,
mit der dieser offenkundige Irrtum durchgehalten und immer wieder stereotyp reproduziert wurde, verwundert die Augen.
Mit den Folgen leben wir täglich und müssen sie
am eigenen Leibe ausbaden.
Es wird hier ganz einfach das Symbol mit der Sache selbst verwechselt, auf die es verweist.
Ein Beispiel: Ein Bauwerk wie der Eiffelturm wird wohl kaum als repressiv oder faschistoid empfunden werden, weil er so zentral und dominant in Erscheinung tritt. Und weshalb nicht? Weil sein Symbolcharakter
allseits nachempfunden werden kann. Dieser besteht in der Repräsentation der vitalen Kraft eines aufsteigenden technischen Zeitalters. Er löst dieselben Empfindungen in all jenen Betrachtern aus, die sich dem Symbolisierten, nämlich der Imposanz der technischen Leistung, innerlich verbunden fühlen.
Der Eiffelturm macht keine Probleme, weil er einen weitgehenden Konsens berührt.
Man betrachtete Versailles über lange Zeit als Politikum: Menschenverachtend werde hier die Würde des einfachen Individuums verhöhnt durch die gigantische Darstellung der monomanen, gottähnlichen Eitelkeit eines Einzelnen. Wie paßt das zu der Tatsache, daß anscheinend kaum einer der heutigen Besucher sich durch die Erfahrung des Baus und der Anlage erniedrigt und gedemütigt fühlt, sondern im Gegenteil erweitert, bereichert und inspiriert? Es kommt eben sehr darauf an, womit man das Symbol assoziiert. Und was man dann tatsächlich wahrnimmt, nicht mit welcher vorgefaßten Meinung man herangeht.
Deshalb müssen wir unser Augenmerk auf die Sache selbst richten, auf die ein Symbol verweist.
Wir können den wahren Zusammenhang nur ergründen, wenn wir fragen, was es ist, das symbolisiert werden soll oder kann.
Entscheidend bei der soeben angestellten Betrachtung ist der Begriff Energie
gewesen. Ein imposantes, aussagekräftiges Symbol hat Energie, aneinandergereihte Serienarchitektur
oder monotone, aus fast identischen Kästen bestehende Trabantenstädte haben keine, ja sie erzeugen
sogar ein Energiedefizit, das auf die Menschen entleerend und kräftzehrend wirkt.
Anstelle von Gleichförmigkeit oder kalter technokratischer Rationalität, die
jeweils energiearm bis energiezehrend wirken, kann ein Symbol auch Werte transportieren, die in einer Vielzahl von Menschen lebendig sind. Dann braucht sich niemand durch das Symbol dominiert zu fühlen. Jeder hat an der Energie des Symbols gleichermaßen teil, und zwar in dem Maße, wie er persönlich sich davon angesprochen fühlt.
Bauten wirken immer als Träger einer Symbolik, einer Bedeutung, ob man sich dessen bewußt ist oder nicht — ob man die Bedeutung kennt oder nicht, ob man sie bejaht oder nicht.
Die heutige Architektur ist an einem Endpunkt angelangt, weil sie sich über das feudale sowie faschistische Denken erhoben fühlt und in den energieschwachen modernen Denkschablonen keine weitere Erfüllung findet.
Man will nicht wieder zurück in die finsteren Zeiten, kann aber auch nicht vorwärts, weil es keine Möglichkeit zu neuer Symbolik mehr gibt, da Symbolik suspekt geworden ist.
Die Lösung: Das Potential der letzten paar Tausend Jahre Menschheitsarchitektur muß, statt es zu negieren, auf einer neuen Ebene genutzt und eingesetzt werden,
wobei der äußere Aspekt des Symbolkults durch einen inneren Aspekt abgelöst wird.
Die Energie, die durch die Baukunst vermittelt, angereichert, reflektiert und verstärkt wird, wird nicht mehr in Tyrannen und Popanze wie Herrscher und Götter gespeist — also in äußere Ziele —, sondern in jenen Teil des Individuums, der sie selbst bitter benötigt: die lernende Instanz, die eigene Bewußtwerdung — also in das innere Zentrum.
Das liegt jenseits der alten äußeren Paradigmen von Gleichheit und Nicht-Gleichheit!
In der sozialistischen Denkweise gibt es das alles nicht — die Reihenhäuser eines Le Corbusier sollen den Massenmenschen ein diesseitiges Wohlergehen bieten und ihre Bedürfnisse versorgen.
Der hier zugrundegelegte Typ der materiell-biologischen Mensch-Maschine soll, gleichberechtigt
untergebracht, es sich gutgehen lassen wie eine fair am Leben gehaltene Legehenne — um schließlich entsorgt und kompostiert zu werden. Die Abwesenheit jeglicher spiritueller Lebensbedeutung wird übertüncht durch begeisterte Jubelphrasen, die eine neue Zukunft preisen. Diese Zukunft der Bedeutung, seit den Zwanziger Jahren und dem Aufschwung der modernen Technik immer wieder verheißen, ist so nie gekommen — gekommen ist bloß Rat- und Orientierungslosigkeit.
Was geschah, war Energieverlust in gigantischem Maßstab als Symptom von Sinndefizit
in ebenso fundamentaler Tragweite, war die herzlose Einsamkeit und emotionale Verarmung in den
Büro- und Wohnsilos, den kühlen U- und S-Bahnhöfen mit ihren
sprayenden Jugendlichen, den im Kreis herumführenden Highways nach Nirgendwo.
Um es mit Le Corbusiers eigenen Worten auf den Punkt zu bringen:
Der Grundriß ist es, den man studieren muß, er ist der Schlüssel ... |
Die Moderne war mit ihrer betonten Sachlichkeit
Sturm gelaufen gegen Verzierungen und dekorative Ornamentik.
Nun, von oben betrachtet, erweist sie sich selbst als genau das,
wogegen sie ursprünglich angetreten war:
Bereits der Grundriß entlarvt ihre Denkschablone als
monotones Muster ohne jede tiefere Bedeutung.
Der Sinnkontext fehlt nun völlig.
Es wurde eingangs bereits angesprochen:
Man muß das alles klar anschauen und so betrachten, wie es ist —
um es innerlich ebenso klar verabschieden zu können.
Hat man es nämlich mit eigenen Augen ohne den Schleier der geltenden Sicht gesehen,
muß man sich damit nicht weiter aufhalten — man kann sich Hunderte und Tausende
kluger und weniger kluger Bücher, Abhandlungen und
Untersuchungen sparen.
Die bloße Betrachtung löst das Problem ein für allemal.
Man braucht sich dann nicht immer wieder neu erklären zu lassen,
warum dies der Endpunkt einer unvermeidlichen Entwicklung sei
und warum man sich nur weiter in diesem toten Kreis drehen könne.
Wer Angst bekommt, weil er etwas sieht, was die Masse anscheinend nicht
wahrhaben will, und ebensowenig die einschlägigen Fachleute, Kritiker und Experten,
der wird auch nichts anderes mehr neu entdecken können.
Der wird nie etwas selbst erkennen, weil ihn seine Angst blind macht.
Manche haben eben nur einen sehr dürftigen Vorrat an Zivilcourage,
und der erschöpft sich schon bei der ersten Begegnung mit dem Unbekannten.
Dabei gibt es gar keine andere Wahl:
Es muß wieder Bauten geben, die vor Energie pulsieren — und es wird wieder solche Bauten geben. Solche Bauwerke reflektieren dem Menschen der neuen Zeit seine eigene innere Kraft und Bewußtheit. Er fühlt sich nicht von ihnen gefährdet, sondern gestärkt. Er erkennt sie an als Sinnbilder einer eigenen Lebensbedeutung: Zu sich zu finden und bei sich zu bleiben, still, harmonisch, kraftvoll und gelassen.
Er hat in sich Ziel und Richtung, und erkennt diese inneren Wertigkeiten in einer Architektur wieder, die ihn hebt und unterstützt, aber doch auch toleriert und nicht bevormundet.
Um die Energie aber empfangen zu können, muß der Mensch sich innerlich anschließen an die Bedeutung des Symbols.
Die heutige analytische Betrachtungsweise von Architektur hält sich gerne an Äußerlichkeiten auf und ergeht sich in einer geradezu unersättlichen Detailbetrachtung. Fragt man den Touristen oder Kunsthistoriker nach der Gesamtbedeutung, heißt es oft, dies sei in der heutigen Epoche nicht mehr nachvollziehbar. Sich anschließen heißt jedoch, die Energie des Gebäudes empfangen und aufnehmen zu können wie eine Nahrung. Wer heute nur an sein Bankkonto glaubt und nichts anderem mehr vertraut als der modernen Medizin, wird nicht wahrnehmen können, was der Sinn der Pyramiden oder der Kathedralen ist. Wer aber gewahr wird, daß er selbst in einem sinnvollen Lebenskontext steht, der ihn zu einer Selbstfindung im Angesicht des eigenen Todes aufruft und hinweist, kann auch solche Symbole direkt wahrnehmen und wird empfänglich für die dort stets wirkenden Kräfte.
— Gerd-Lothar Reschke —
20.9.1997
Startseite |
GLR Bücher |
HTML5
Copyright © 2024 Gerd-Lothar Reschke |
Impressum |
Datenschutz