Vorschläge zur Klärung eines Begriffes
von
Gerd-Lothar Reschke
Das Menschliche Maß ist zweierlei: Eine numerisch meßbare Größe und ein subjektives Empfinden. Als numerisch meßbare Größe können wir die menschliche Körpergröße angeben. Subjektives Empfinden bestimmt die Wahrnehmung unseres Verhältnisses zu Räumen, Wegen, Plätzen und Gebäuden, also: wie fühlt sich der Mensch in bezug auf baulich gestaltete Umgebung — entspricht sie ihm, kommt er sich geborgen, gestärkt, beheimatet in ihr vor oder ausgeliefert, abgewiesen, degradiert?
Das Menschliche Maß in der Architektur zu berücksichtigen sollte selbstverständlich sein — es sollte die wichtigste Voraussetzung und Grundlage aller Entwürfe darstellen. Leider ist das aber nicht immer der Fall, und wenn man es unter diesem Aspekt genauer untersucht, nur um dann feststellen zu müssen, wie selten es tatsächlich der Fall ist (und anscheinend sogar immer weniger), dann kann das schon erschrecken und nachdenklich machen.
Ich möchte hier auf beide Aspekte, den objektiv meßbaren der Körpergröße und den subjektiv erfahrbaren des Empfindens näher eingehen. Natürlich hängen beide auch eng miteinander zusammen.
Als bekannt kann die Schrittweite vorausgesetzt werden, nach der Treppen zu bemessen sind. Es gibt ein bestimmtes Verhältnis von Stufentiefe und -höhe, das ein angenehmes Voranschreiten und Aufwärtssteigen ermöglicht. Manchmal mag das bei der Konzeption einer Treppe aus ganz bestimmten Gründen nicht uneingeschänkt einzuhalten sein, aber oft bestünden in dieser Hinsicht keinerlei Schwierigkeiten, und trotzdem werden dann Treppen so bemessen, daß sie zum Hindernis werden. Dies ist ein Beispiel für das Menschliche Maß. Der Mensch sollte zugrunde gelegt werden, nicht das intellektuelle Postulat, nicht irgendeine abstrakte Ästhetik.
Weitere Beispiele, neben Treppen, wären Gebäudehöhen, Gestaltung der Gebäudefassade sowie der Eingänge. Ferner: Raumproportionen, Lichtverhältnisse, Winkel und Ecken, Inneneinrichtung, verwendete Baumaterialien und -Farben, Akustik, abladende und aufladene Stellen (Kraftfluß), Einsatz von Pflanzen, von Wasser oder anderen Naturressourcen.
Ich möchte mich diesem Thema in erster Linie nicht logisch-rational nähern, sondern intuitiv, und bin der festen Überzeugung, daß dieses intuitive Vorgehen ebenfalls verifizierbar und belegbar ist, nämlich durch eigene praktische Beobachtung. Es gibt Gebäude, die den Menschen, der vor ihnen steht, schrumpfen lassen und damit erniedrigen. Dem Menschen wird klargemacht: "Du bist nur ein Nichts, ein kleines Rädchen in einem großen Getriebe — ich, das Gebäude, bin groß, wichtig, bedeutsam, aber du, der Mensch, bist klein, unwichtig und bedeutungslos." Umgekehrt gibt es Bauwerke, die den Menschen nicht nur respektieren, sondern die ihm sogar ganz bewußt Würde und Kraft zuströmen lassen. Jeder kennt das Beispiel der gotischen Kathedralen, die zwar in maximale Höhen zu streben suchten, aber dennoch durch die Anordnung ihrer Spitzbögen den Menschen, der ihnen begegnete und in sie eintrat, mit empornahmen und emporhoben.
Wenn es etwas gibt, an dem Architektur sich messen lassen sollte, dann ist es, ob die Würde des Menschen verkleinert oder bestätigt wird. Eine Geringschätzung des Menschlichen Maßes führt zur Geringschätzung des Menschen, für den das Gebäude eigentlich da sein sollte. Es offenbart sich dann nicht zuletzt die Denkweise derjenigen, die solche Gebäude erschaffen haben.
Das Größen- bzw. Verhältnismaß ist nur ein Aspekt von menschenfreundlicher Gestaltung — wenn auch einer der wichtigsten. Es wurden bereits erwähnt: Farbgestaltung, Materialabstimmung, Umgang mit Licht und Frischluft, räumliche Proportionen, nicht zuletzt Klangeindruck; und es gibt etliches weiteres zu berücksichtigen. Auch bei alledem kommt so etwas wie ein Menschliches Maß vor, nämlich als etwas, das in der Gesamtheit der komponierten Resonanzen dem Menschen entgegenkommt und ihn zu bereichern sucht.
Ich spreche dabei immer noch von subjektiver Wahrnehmung und von Intuition. Das Wort "Maß" deutet darauf hin, daß es da etwas zu "messen" gäbe, und dies wird zumeist unmittelbar mit rationalem Denken verknüpft. Das rationale Denken kann aber dazu herhalten, vieles zu rechtfertigen und eine ganze Menge von fürchterlichem Unsinn gleich mit dazu. Es gibt noch andere Kriterien, die als "nicht objektiv meßbar" bezeichnet werden — subjektive also. Dennoch sind diese wahrnehmbar! Zwar läßt sich über Geschmack viel und trefflich streiten, aber dennoch ist auch diese subjektive Wahrnehmung in den meisten Fällen überraschend ähnlich. Solange ihr Gehirn nicht völlig von abstrakten Konzepten und entlegenen Theorien vernebelt ist, nehmen Menschen verblüffend ähnlich wahr. Die Reaktion auf ein menschenfreundlich gestaltetes Gebäude ist zumeist genau so einhellig wie die auf ein abweisend und fremd wirkendes Bauwerk.
Die Frage ist immer nur: Verlassen wir uns auf unsere unmittelbare Wahrnehmung, oder lassen wir uns verunsichern durch scheinbar überlegene Kriterien, die mit einem imposanten Anspruchsdünkel auftreten? Der Dünkel sieht oft auf den ersten Blick wissender und klüger aus, aber woher kommt das? Die Eitelkeit der einen spricht die Eitelkeit der anderen an — Menschen, die ihrer eigenen Erkenntnisfähigkeit nicht mehr trauen, sind leicht zu unechtem Fassadendenken verführbar, wie die tiefsinnige Parabel von "Des Kaisers neuen Kleidern" sehr anschaulich zeigt. Man traut dem eigenen Empfinden nicht mehr, weil man nicht riskieren möchte, als dumm und inkompetent dazustehen.
Um wirklich herauszufinden, was die Wahrheit hinter all den schönen Worten und Behauptungen ist, kommen wir nicht umhin, uns wieder auf die eigene subjektive Beobachtung zu besinnen. Das Kriterium des Menschlichen Maßes stellt ein gutes und sehr praktisches Betätigungsfeld dafür bereit. Wir brauchen damit nur neu und vorurteilslos hinzuschauen, und unsere Wahrnehmung wird sich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit von neuem zu schärfen und zu klären beginnen.
— Gerd-Lothar Reschke —
15.7.1997
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