Kraftdramaturgie: Stärkung und Schwächung – mit Anschauungsbeispielen
Text und Fotos von
Gerd-Lothar Reschke
Inhalt
Das Begriff Kraftdramaturgie besagt, daß Gestaltung stets eine Veränderung von Kraftverhältnissen bedeutet. Der Kraftfluß wird verändert, und das bedeutet zumeist eine Stärkung oder eine Schwächung der Kraft. Dramaturgie — dieses Wort habe ich mit voller Absicht gewählt; man könnte auch von Inszenierung oder gestalterischem Aufbau sprechen. Jenseits von sogenannter "objektiver" architektonischer oder ästhetischer Wirkung wird die Wahrnehmung dessen, der sich an dem betreffenden Ort aufhält, beeinflußt, wird sein Empfinden verändert, sein Sich-selbst-Fühlen, sein innerer Zustand. Das kann nur durch Energie, nicht durch Ideen oder abstrakte Vorstellung geschehen.
Mir geht es auch bei diesem Beitrag wieder darum, ganz konkrete und praktische Anschauungsbeispiele dafür zu liefern, wie Kraftverhältnisse beeinflußt werden können und wie mit Kraft umgegangen werden kann.
Die aufgeführten Beispiele haben nun aber eines an sich: Sie wirken völlig absurd, auf eine Weise sogar provozierend lächerlich. Ich bringe sie, weil sie extrem klar zeigen, wie wenig über unser Thema heute noch nachgedacht, wie wenig hier noch gespürt und wahrgenommen wird. Wahrgenommen wird schon, aber eben nicht bewußt! Und wo das alles ins Unbewußte weggeschoben wird, wird auch nicht mehr reflektiert, gesprochen und aufgearbeitet. Mir geht es also hier auch um Bewußtmachung.
Das nachfolgende Foto wurde vom Monopteros im Englischen Garten, München, mit Blickrichtung Innenstadt aufgenommen. Und es ist ein hervorragendes Beispiel für Umgang mit Kraft, und zwar: Für Schwächung. Die neu angepflanzten Sträucher und Baumgruppen sind Reaktion auf die ursprünglich vorhandenen Kraftverhältnisse. (Ich empfehle, sich hier und bei allen nachfolgenden Bildern die markierten Anpflanzungen wegzudenken und dann im Geiste beide Situationen miteinander zu vergleichen.) Zugleich haben wir auch schon ein gutes Beispiel vor uns, was Kraftdramaturgie ist und wie sie arbeitet.
Blick vom Monopteros in Richtung Innenstadt
(Englischer Garten, München)
Ort der Dramaturgie (oder Inszenierung) ist die große, weite Fläche — eine der schönsten und (ursprünglich) am besten durchdachten Parklandschaften in Deutschland. Ich habe im Beitrag
Geomantische Praxis (1)
bereits über den Zusammenhang zwischen instinktiver Energiewahrnehmung und Aufmerksamkeit gesprochen. An diesem Beispiel kann gut studiert werden, wie sich in der Mitte der Fläche die Aufmerksamkeit zentriert. Hierzu tragen die umliegenden Augenmerke und Bau- bzw. Pflanzgruppen bei; nicht zu vergessen das vorhandene System von Wasserläufen. (Die Querlinie im oberen Bilddrittel ist eine Abzweigung des Eisbachs.)
Man könnte diese Fläche nun als "leer" bezeichnen, aber diese Leere ist eben kein Defizit, sondern etwas, das den Menschen nach innen führt. Wer sich dort aufhält, wird sich auf seinen Mittelpunkt zentriert fühlen. Die Umgebung, in der er sich aufhält, führt ihm Kraft zu. Und wer nun von hier oben nach dort unten schaut, hat ebenfalls an dieser Erfahrung teil. Er ist Teil einer ausbalancierten Harmonie, bei der Proportionen und natürliche Ressourcen zusammenspielen und den heilsamen, ausgleichenden Gesamteindruck bewirken, mit dem wir es zu tun haben.
Aber genau das, was ich beschrieben habe, ist offenbar Kräften, die heute das Sagen habe, ein Dorn im Auge, und so müssen sie den Vorteilen der Lokalität entgegenarbeiten. Dies geschieht durch Einpflanzung von schwächenden Sperren (— ich sagte bereits, daß es absurd und lächerlich ist, aber es gäbe Tausende weiterer Beispiele, weil wir nun einmal in dieser Art von Epoche leben).
Gegenrichtung zu 1. Foto
In der ersten Gegenrichtung blicken wir von der großen Wiese aus zurück auf die Monopteros-Anhöhe. Man kann sich nun leicht verdeutlichen, wie die Energie im Spannungsfeld zwischen Anhöhe und offener Wiesenfläche pulsiert, wie also hier im Sinne der Dramaturgie Kraft aufgebaut wird und fließt. Entsprechend wurde als "Gegenmaßnahme" ein Riegel aus jungen Bäumen eingefügt.
Weitere Gegenrichtung zu 1. Foto
Dasselbe finden wir auch in der anderen Gegenrichtung vor, wo wir ebenfalls von einer offenen Fläche aus auf die Monopteros-Anhöhe zurückschauen. Auch hier, oder sogar noch klarer, ist zu beobachten, wie der Raum unterhalb des Hügels "atmet". Und ebenfalls — hat man die (Un-)Logik der heutigen Gestalter erst einmal durchschaut, dann weiß man auch, warum — wurden Gegenmaßnahmen ergriffen, um den Hügel abzusperren.
Es gibt noch einen zweiten Aspekt, warum man meint, hier etwas Neues hinpflanzen zu müssen: Man fürchtet die entlang von Wegen aufgebaute Energie. Ein Weg leitet und sammelt nämlich, wenn er gut angelegt ist, von sich aus Energie. Dazu wird er, wie in Kraftfluß in Außenanlagen und in Geomantische Praxis (1) (Kraftströmung und Flußachsen) bereits erläutert, mit den Gestaltungsmerkmalen Biegung und Akzentierung versehen sein.
Wegbiegung
Das Merkmal Biegung verstärkt den Kraftfluß (es kann sich um eine seitliche oder höhenmäßige Biegung handeln). Der Weg beginnt in Relation zur Umgebung, also der Fläche oder Steigung, zu pulsieren. Er erzeugt einen besonderen Akzent. Auch das löst wiederum Angst und den dazugehörigen Gegenreflex aus, wie obiges Bild mit den kaschierenden Anpflanzungen zeigt. Es scheint fast so, als würde man sich "Sorgen" um den "alleingelassenen Wanderer" machen, der es nicht aushalten könne, der Szenerie "schutzlos" ausgesetzt zu sein.
Eine Wegbiegung führt zu etwas hin. Auch dieses Hinführen erzeugt Energie im Sinne unseres Begriffs Dramaturgie. Versperrt man hier aber den Fernblick, so nimmt man dem Aufbau auch die Wirkung, auf die er abzielte.
Wegverlauf mit Biegung
Eine Rechtsbiegung mit weiter Sicht nach links erschafft und betont ein Erlebnis: auch das kann ein Kunstgriff von Dramaturgie sein. Diese Aussicht nach links aber wurde kaschiert und aus dem belebenden Eindruck von Weite und Offenheit entsteht eine Eingrenzung, die kleinkariert wirkt. Es gibt ein Denken in den kleinbürgerlichen Kategorien der Schrebergärten und Hinterhöfe, und es gibt ein Denken, das mit großzügigen Proportionen arbeitet und neue Horizonte sowie tiefere Einblicke erschafft. Hier finden wir die zweite Art Denken durch die erste ersetzt.
Man sollte sich noch einmal wachrufen, wozu Wege in einem derartig weltstädtischen, weiten und großzügigen Park wie dem Englischen Garten zu dienen haben: Sie sollen den Zugang öffnen zu einem Erleben von tieferer als der anderswo gewohnten Art. Sie sollen ein Gefühl für atmenden Freiraum und größere Bezüge schaffen. Hier soll der einzelne Mensch aus seiner Beengtheit freigesetzt und neuen Ausblicken entgegengeführt werden. Genau diese Erfahrung ist es, die entspannend und regenerierend wirkt.
Wegverlauf an großen Bäumen
Auch das Merkmal Akzentuierung verstärkt den Kraftfluß; z.B. durch große, alte Bäume. Obiges Bild zeigt rechts und links zwei davon, mit — noch aus alter Planung herrührender, an folgerichtiger Stelle plazierter — Sitzbank. Wiederum sammelt sich vor dieser Sitzbank und im äußeren Kurvenradius der leichten Wegbiegung Energie — und schon entstand der Reflex, das zu vermeiden und durch neue Anpflanzungen abzufangen.
Durchblick auf die große Wiese
Dabei nimmt man auch in Kauf, den freien Ausblick zu behindern. Die oben gezeigten drei Bänke boten früher noch einen wunderbar erfrischenden und wohltuenden Ausblick auf die große Wiese. Auch hier gibt es nun Neupflanzungen als Sicht- und Energiesperre.
Platz unter großem Baum,
Durchblick über den Bach auf die Wiese
Für dieses Vorgehen findet man unzählige Beispiele. Ich möchte Sie nicht langweilen oder völlig frustrieren, aber das Bild mit dem Durchblick über den Bach auf die rechts anschließende große Wiese kann, je nach Verständnis und Blickweise, auch als Illustration für Sammlung und Bereicherung von Energie betrachtet werden — wären da nur die entsprechenden neuen Sperrpflanzungen nicht!
Unter dem Baum und am Bach sammelt sich nämlich ganz offenkundig eine erhebliche Energie. (Nicht zuletzt handelt es sich im Sommer um einen der meistbesuchten und beliebtesten Treffpunkte des Park-Publikums.) Also müßte, um der Entfaltung der Kraft genüge zu tun, erst recht ein Freiraum gewährleistet sein, der Bach und Baum dazu verhelfen würde, ihre unterstützende Wirkung möglichst üppig entfalten zu können.
Wegkreuzung
Auch Wegkreuzungen sind oft Akzentuierungen und damit Kraftzentren. Das obige Bild zeigt ein sehr schöne Dreiergruppe, die die Kreuzung beschützt und in ihrer Wirkung unterstützt. Das rechts hinzugepflanzte Buschwerk saugt diese Wirkung — zum Teil wenigstens — wieder auf. Außerdem versperrt es den Blick, der eigentlich entlang des Weges führen und der leichten Rechtsbiegung folgen sollte.
Kraft-Dramaturgie ist nur möglich, wenn die dahinterstehenden Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge erkannt und gewürdigt worden sind. Alle genannten Beispiele weisen zweierlei nach: Erstens, daß dies bei guten Anlagen, also hier etwa beim Englischen Garten mit seiner ca. 200-jährigen Wirkungsgeschichte, durchaus der Fall war. Und zweitens, daß dieses Wissen und das dazugehörige Gespür nicht nur bei einschlägigen Planungskreisen immer mehr verlorengeht, sondern daß sogar eine Gegenbewegung in Gang gekommen ist, die genau in die umgekehrte Richtung führt.
Uns bleibt nichts anderes zu tun, als die betreffenden Zusammenhänge aufzuzeigen und den Blick neu dafür zu schärfen, was Schwächung und was Stärkung bedeutet. Schwächung wird nur der bewerkstelligen, der sich über derartige Aspekte total unbewußt ist und im Nebel irgendwelcher versponnenen Verstandesabstraktionen umherirrt — wem also authentisches Spüren und Fühlen weitgehend verloren gegangen sind.
Die dargestellten Fotos können nur Fingerzeige und Anregungen bieten — es ist immer am besten, man begibt sich selbst nach draußen und beginnt, seine Lebensumgebung mit wacherem und aufmerksamerem Blick zu untersuchen.
— Gerd-Lothar Reschke —
5.10.2003
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