Zentrale und dezentrale Orientierung, Zerstreuung oder Bündelung der Kraft.
Von Gerd-Lothar Reschke
Inhalt
Zentrale und dezentrale Orientierung sind hervorragende Beispiele für den Umgang mit Bedeutung. Zentrale Orientierung bewirkt Verstärkung, Betonung, Fokussierung von Bedeutung.
Die folgenden Beispiele zeigen ein paar Möglichkeiten, wie entlang einer Achse Energie aufgebaut werden kann, wie man ein Spannungsfeld schaffen kann, das pulsiert und in eine sich rückkoppelnde und so verstärkende Schwingung versetzt wird:
Dezentrale Orientierung bedeutet Zerstreuung und Abschwächung von Bedeutung. Wer kennt nicht die typischen Arrangements, in denen Wege durch Flächen gebahnt sind, ohne dabei auf irgendetwas bezogen oder gerichtet zu sein? Da geht es oft nur darum, etwas hineinzusetzen, damit eine Leere gefüllt wird, die sonst Angst machen könnte. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, keine Mitte und keinen irgendwie dominierenden Punkt. Oder es gibt einen Spielplatz, einen Busch, einen Brunnen, einen Müllplatz, auf den hin alles bezogen ist, aber dort fühlt man sich verloren und ausmanövriert. Man gerät dorthin und weiß nicht, was man da soll. Ein Gefühl macht sich breit, in die Irre geleitet worden zu sein.
Beispiele:
Wenn man in München vom Stadtzentrum und Hofgarten der Residenz kommend in Richtung des Englischen Gartens geht, trifft man folgende Inschrift auf einer dort postierten Statue griechischen Stils an:
Harmlos wandelt hier.
Dann kehret neu gestärkt
zu jeder Pflicht zurück.
Der zuerst etwas merkwürdig wirkende Text hat es in sich, wenn man sich seine eigentliche Bedeutung klarmacht. Und er könnte — vielleicht ohne den Hinweis auf Pflicht — auch gut am Olympiazentrum stehen. Warum harmlos?
Das Olympiazentrum sollte 1972 der Welt auch eine Harmlosigkeit zeigen:
die des deutschen Volkes. Man wünschte sich "heitere" Spiele —
eine klare Gegenthese zu den faschistischen Spielen 1936 in Berlin.
Der Welt sollte demonstriert werden, daß die Deutschen sich völlig
gewandelt hätten und nun statt kriegerisch friedliebend
aufträten. Die Architektur bietet eine perfekte Umsetzung dieser Grundidee. Alles an der Anlage und Konzeption des Geländes wirkt beschwingt, es gibt so gut wie keine Linien, sondern nur Bögen, Schwingungen, Umlenkungen.
Das Olympiagelände stellt eine einmalige und sicher bewundernswerte historische Bauleistung dar — das sei unbestritten.
Aber etwas fehlt bei dem ganzen heiteren Schwingen
und Hin-und-Her: Die Mitte. Es gibt keine Mitte.
Es soll auch keine geben, ja es darf keine geben!
Je näher man sich die Anlage unter diesem Aspekt anschaut, desto mehr wird klar: Die Auflösung der Mitte ist das unausgesprochene Dogma des Ganzen.
Es gibt eine Idee, die der Mitte, des Zentrums, der Konzentration der Kraft,
um die es hier unsichtbar geht, aber negativ, in der Verleugnung, in der Tabuisierung:
Die These war zuerst da, hier haben wir die darauf basierende
Negation!
Für mich ist das Münchener Olympiagelände ein Musterbeispiel für eine Architektur, die ich Architektur der Beliebigkeit, Auflösung, Zerstreuung nenne.
Die Tabuisierung der Kraft ist unausgesprochenes Prinzip.
Nehmen wir zum Beispiel den Plan des Geländes und suchen wir das Zentrum.
Es gibt einen zentralen Bereich, nämlich den Coubertin-Platz zwischen Olympiahalle
und Stadion. Der rote Punkt in der Mitte des Grundrisses zeigt den eigentlichen Mittelpunkt an.
Deutlich ist zu erkennen, wie man sich scheut, eine Kraft in dieser Mitte entstehen zu lassen:
Das, was sich an Energie der Wahrnehmung und des Raumes bilden kann, wird
sogleich in mehrere Richtungen durch sich öffnende Bögen abgeleitet.
Betrachtet man nun die Konturen der angrenzenden Bereiche und die Form des zentralen Coubertin-Platzes,
so fällt auf, daß alle diese Linien abschwächend angelegt sind:
Alles ist auf Zerstreuung und Ausweichen hin konzipiert.
Der Platz "ergißt" sich fast in den
daran anschließenden See. Dort findet sich eine Theaterbühne, die
aber genau verkehrt herum angelegt ist:
Die Bühne führt ins Weite des Sees hinaus. Das Rund der
Zuschauerränge schließt sich nicht genügend, sondern bleibt offen.
Man kann hier etwas aufführen, aber es muß künstlich wirken, man
spielt gegen die Offenheit der Szenerie an, die
Aufmerksamkeit zerstreut sich in die dahinterliegenden
Punkte und Blickfänge.
Nun könnte man fragen, wo denn da das Problem sei.
Warum nicht Zerstreuung, Fröhlichkeit, Heiterkeit, Offenheit —
sozusagen als Kennzeichen einer offenen, demokratischen Gesellschaft,
die auf Autoritäten gut verzichten kann?
Erstens ist es immer schlecht, wenn etwas verheimlicht und kaschiert werden soll.
Wenn eine schöne Kulisse erstellt wird, um von etwas anderem abzulenken.
Und zweitens ist das Fehlen des Kraftzentrums ein Zeichen von Schwäche. Offenheit, die zum Selbstzweck erhoben wird, bleibt Vakuum. Ein Vakuum hat die natürliche Tendenz, etwas anzuziehen, von dem es gefüllt wird.
Heiterkeit allein — oder bleiben wir bei Harmlosigkeit, denn
der Begriff drückt es am besten aus, was los ist —
reicht nicht, niemals.
Denken Sie an folgendes: Endeten die Spiele heiter? —
Das, was dann geschah,
hat nichts mit dem Thema zu tun! —
Wirklich nicht?
Nur einfach Friede und Freundlichkeit zu wollen, macht verletztlich.
Auch Stärke ist nötig, Stärke, die nicht ein offenes Vakuum läßt,
sondern den Raum mit Kraft auflädt. Die Menschen merken das.
Diese Dinge kann man spüren.
Am Beispiel einer altägyptischen Tempelanlage läßt sich veranschaulichen,
wie durch das Vorhandensein einer zugrundeliegenden Aussage
der eigentliche Kern der Baukunst zutage treten kann:
Verdeutlichung eines Sinnaspekts durch unmittelbare Kraftübertragung:
Bei der im Vordergrund des folgendes Bildes
gezeigten Anlage der Königin Hatschepsut
finden wir ein klassisches Beispiel für konsequent durchgeführte zentrale Orientierung.
Die gesamte Anordnung der Rampen und Stufen führt allmählich zu einer
Mitte hin, die höher gelegen ist. Der hereinkommende Besucher wird vorwärts- und höher geführt.
Die Entfernung, der er dabei zurücklegt, hinterläßt aber auch Spuren in seinem Innern.
Man kann solche Arrangements nicht nur äußerlich sehen, sondern muß sich gewahr sein, daß sie für ein inneres Auge konzipiert sind, für eine innere Erfahrung.
Innerlich geschieht eine Art Aufladen mit Energie. Und zwar hier als Empfangen der Energie des Berges, der großartigen Felskulisse. Die imposante Kraft des Bergmassivs wird angezapft und wie eine Nahrung aufgenommen, gespeichert.
Eigentliches Zentrum der Anlage ist die bereits tief im Berg selbst befindliche Grabkammer der Königin. Davor finden wir auf der oberen Plattform Amun-Kapelle, Sonnenhof und Altar.
Dêr el-Bahari (Oberägypten),
mit Totentempel (li.) des Mentuhotep, etwa 2050 vor Chr.,
und der Königin Hatschepsut (re.), etwa 1500 v. Chr.
Diese auf obigem Bild so imposant durchführte Achse ist aber selbst auch nur Teil eines noch größeren Kontextes,
wie der folgende Lageplan erweist: Das Ende einer ca. 4 km langen, geraden Linie trifft auf Karnak (1)
mit seinen imposanten Tempelbauten:
Lageplan von Theben (Oberägypten):
1: Tempel von Karnak, 2: Tempel von Luxor, 3: Dêr el-Bahari
Ich muß hier besonders betonen:
Der damalige historische und kultische Bedeutungshintergrund
braucht gar nicht bekannt zu sein, damit das Bauwerk wirkt!
Es wirkt immer und auf jeden (eine gewisse Offenheit der Wahrnehmung und
Gegenwärtigkeit der Aufmerksamkeit vorausgesetzt).
Es wirkt mit fast physikalischer Zwangsläufigkeit, weil es
eine Maschinierie der Energieübertragung in Gang setzt.
Derartige Zusammenhänge, das muß man peinlicherweise sagen, sind heute
vergessen — sie waren vor 2000 oder gar 5000 Jahren weit bekannter und wurden
viel bewußter eingesetzt. (Um aber das überhaupt sehen zu können, muß jedoch
das tiefsitzende Vorurteil, wir wären heute in allem ja so viel weiter,
erkannt und überwunden werden!)
Während hier wie in vielen großartigen Bauten des Mittelalters, der Gotik, des Barock subtile Gesetzmäßigkeiten benutzt werden, um den Menschen ein Sinngefühl nicht nur als abstrakte Idee oder ideologisches Konstrukt zu vermitteln, sondern fühlbar, spürbar und direkt erfahrbar als Kraftstoß, als erfüllende Vision und als Ermutigung, geht es in modernen Bauten nicht mehr um derartige Absichten, oder noch enttäuschender, wie im obigen Beispiel des Olympiageländes, um deren Ablenkung und Verdrängung.
Diese entgegengesetzten Zielrichtungen klar zu unterscheiden, läßt sie erst bewußt werden und konturiert die Entscheidung darüber viel klarer, was in Zukunft zu tun ist.
Man könnte nun einwenden, der heutige Mensch bräuchte ja keinen "Zentralismus",
sondern Entspannung vom Streß. Dezentrale Anlagen wie der erwähnte Englische Garten in München böten ihm dazu die besten Bedingungen. Konzentration würde schon zu viel gefordert, Lockerheit und Leichtigkeit in der Muße seien es, was fehlt.
Hierbei wird vorausgesetzt, daß Zerstreuung und Ablenkung stärkend wirkten.
Zugrunde liegt ein Menschenbild, das den modernen Menschen als unterhaltenen Menschen zeichnet.
Der unterhaltene Mensch ist unreif, hilflos, schwach.
Er ist Objekt und Opfer größerer Zusammenhänge, die er nicht durchschaut und
gegen die er nicht ankommt.
Der unterhaltene Mensch kann nicht auf eigenen Beinen stehen, er muß künstlich stabilisiert werden.
Demokratie erfordert selbstständige Menschen — Menschen, die aus eigener Kraft standhalten können, ohne gleich umzufallen.
Kraft ist die Voraussetzung für jede Art von Selbständigkeit. Ohne Kraft keine Freiheit!
Um aber Kraft zu bekommen und behalten zu können, um kraftvoll leben und handeln zu können, aufgeschlossen, mutig, risikobereit und humorvoll,
reicht es nicht, sich in Beliebigkeiten zu ergehen. Laufen Sie in einem Gelände wie dem Englischen Garten ein paar Stunden herum, können Sie sich zwar entspannen, aber Sie haben sich allzu schnell selbst vergessen.
Nein — kraftvolle Bauten tanken mehr auf als jede Unterhaltung.
Sie zentrieren uns, führen zur Besinnung auf sich selbst.
Und weisen darüber hinaus in eine Perspektive der Entwicklung und Erweiterung. Sie deuten mit ihrer Aussage Sinn an. Und Sinn bringt erst wirklich Lebenskraft zum Atmen. Ohne Sinn, nur in der Unterhaltung und Zerstreuung, ist Vergnügen das einzige Lebensziel — ein trügerischer Dämon, der sich gegen uns wendet und uns zerstört. Sinn ist eine ganze Stufe höher angesiedelt. Er vermag auch in Situationen standzuhalten, die zeitweises
Unvergnügen auslösen, aber letztlich führt er zu einer ganz anderen
Art von Freude, einer Freude, die echte Stärke ist.
Die richtigen Bauten zeigen uns, was Sinn ist. Sie sind steingewordener Sinn. Dieser Stein ist nicht tot, sondern lebendig: er pulsiert, er vibriert, er schwingt, er strahlt aus, er wärmt, er stärkt. Wir gehen hinaus auf die Straße und sehen das, tagtäglich und immer wieder. Wir fühlen: Ich lebe in einer Gesellschaft, die das anstrebt, kennt und schätzt. Da macht es Freude, dabeizusein und mitzuwirken.
— Gerd-Lothar Reschke —
20.9.1997
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