Die sogenannte "Kreativität" der herzlosen Phantommenschen.
Von Gerd-Lothar Reschke
Ein Tagebucheintrag vom 26. Juni 1999
(Intellektuelle Architektur I)
Durch Zufall kam ich bei einer Veranstaltung der Architektenkammer vorbei, Architektour genannt: Um zwei Straßenecken befindet sich hinter der evangelischen Kirche ein ambitioniertes Kindergartenprojekt. Dort war ich schon gewesen und hatte sofort Feuer gefangen, was das ungewöhnliche Bauwerk betraf. Nun kam heute der Architekt, aber wie das so ist:
Verspätung 20 Minuten, ein paar intellektuelle Allgemeinplätze, die Kindergärtnerin war wohl zu
gehemmt, um laut etwas zu sagen. Früher hätte ich mich geärgert und wäre, wie die
anderen Besucher auch, mit beflissenem Dauergrinsen und posierendem Hin- und Herglotzen
dagestanden wie festgenagelt.
Inzwischen stößt mich ab, was zur Zeit in unserer Gesellschaft auf diesem Sektor geschieht.
Mich widert es an, daß der gesamte Baubereich — und er ist so wichtig und symbolisch! —
zur Spielwiese von Intellektuellen verkommen ist, die alles mit ihrer dekadenten,
analytischen Denkweise ruinieren — in Schwarz gekleidete, zigarettensüchtige, mit hohler Rhetorik auftrumpfende
Klugscheißer und Angeber. Und diese Art von Leuten prägt unsere Lebensumwelt. Und die
Gesellschaft läßt sich von diesem leeren Getue beeindrucken! (Ich merke, wie ich auch
hier inzwischen noch viel mehr mit dem Herzen wahrnehme, und daher auch leicht
fanatisch und hitzig werden kann. Besonders dann, wenn ich weiß, daß ich richtig liege.)
Außerdem, von der Architektur ganz abgesehen, läßt sich hier auch menschliche Dürftigkeit
studieren. Diese Dürftigkeit tut immer etwas leise und verlegen, scheinbar bescheiden
und zurückhaltend. In Wirklichkeit ist es emotionaler Geiz, ist es geistige Feigheit
und stumpfes Mitläufertum. Ich kann so etwas nicht mehr ertragen; ich kann es nicht einmal mehr
mit ansehen. Natürlich bringt es nichts, das verbal auseinanderzunehmen. Aber eines kann ich
davon profitieren: Noch stärker, noch viel stärker nach eigenen Werten zu gehen.
Auch ich habe ja diese Dürftigkeit gelebt, fast bis jetzt. Es ist dieselbe Dürftigkeit,
die einen hindert, öffentlich zu lieben — ja, "öffentlich" (lustig, nicht wahr?).
Öffentlich lieben ist öffentlich Gefühle zu zeigen und zu leben.
Öffentlich lieben ist öffentlich laut zu sprechen, so daß andere es verstehen können.
Öffentlich lieben ist öffentlich die eigenen Beobachtungen und Gedanken auszusprechen —
ohne Angst, was "andere" — oh je, immer diese "anderen"! — denken könnten, sagen könnten,
kritisieren könnten.
Und es ist aufschlußreich, ganz klar zu sehen, was öffentlich geschieht: Wer nämlich
öffentlich sich selbst einbringt oder wer nur öffentlich meckert, analysiert,
intellektualisiert, argumentiert. Wenn man einmal sieht, wie mies und jämmerlich das ist
(einschließlich all dieser miesen und jämmerlichen Fernsehleute, Journalisten, Politiker,
Architekten, Planer, Denker und Redner — man muß das nur einmal anschauen, wie kläglich und
dürftig die sind!), dann, und erst dann, wird man frei. Und nimmt die Dinge, die einem zu
tun bleiben, in die eigene Hand. Und wo das Mitreden in diesen politisierenden Gremien
zwecklos ist, läßt man es und überläßt ein für allemal diese Schwätzer sich selber.
Natürlich kann ich sie nicht hindern, weiterzumachen und weiter ihre Hirngespinste in
"Architektur" zu verwandeln.
Das muß ich verkraften.
Ich habe auch noch genug anderes zu tun.
Vielleicht schafft es P., dem ich hier etwas helfen möchte, eine Sparte zu machen à la
IDEENMAGAZIN DER ARCHITEKTUR. Es gibt nur diese eine Chance —: Selbst ganz von vorne
anzufangen, denn Architektur greift tief in die eigene Wahrnehmung und Sicht der Welt hinein.
Mit Intellektuellen ist jedes Gespräch von vornherein zwecklos. Man muß zeigen, daß es auch
anders geht, ja daß hier überhaupt erst die echte Baukunst anfängt. Nicht im Kopf und nicht durch
Kopie der Kopie der Kopie, sondern
im direkten Gespür und in der authentischen Wahrnehmung. Und da muß man einfach
weitergehen und Dinge kreiieren — sollen dann diese Hülsencharaktere nur glotzen und sich
wundern. Solche Leute kann man nicht überzeugen, denen muß man etwas Besseres vor die Nase
setzen. Das mögen sie dann angreifen und sich daran reiben — und damit haben sie schon verloren.
Noch einmal zur emotionalen Dürftigkeit. Sie ist die Zwillingsschwester des Intellektualismus.
Nur weil die Menschen Angst vor sich selbst haben und Angst vor Gefühl, Leben und Liebe,
nur deshalb reden sie so kompliziert herum und denken sie in so kruden Umwegen und verschnörkelten,
unverständlichen, ziel- und zwecklosen Gedankenschleifen. Sie können nicht auf den Punkt
kommen, weil sie Angst vor dem Punkt haben, Angst vor jeglicher Klarheit, Angst vor jeder
klaren Stellungnahme. Das sind düstere Gespenster, keine würdevollen, stolzen, aufrechten
Menschen mehr! Und es gibt so viele von ihnen! Die meisten, die hier herumlaufen, sind so
geworden.
Nach denen darf man sich nicht richten; mit denen kann man höchstens Mitleid haben —
aber selbst das ist eine nicht ungefährliche Reaktion! Am besten, man geht über sie
hinweg und ignoriert sie völlig.
Es ist leicht zu merken, wenn man genau aufpaßt, wie sich die Energie durch sie verändert.
Die blassen Hülsen- und Phantommenschen wirken müde, und sie machen auch andere
unendlich müde. Man muß sich dann zwingen, überhaupt noch zu verstehen, was gesprochen wird.
Und das, was man hört, löst nichts bei einem aus, es spricht einen nicht an, es verfehlt
das Herz — da sind nur tote Informationen, tote Formulierungen, irgendwelche
Worte, die klug scheinen, aber auch wieder nur ermüden und auszehren. Wenn das so
ist, sollte man schauen, daß man sich rettet und die eigene Energie behält.
Das Thema hat nur diesen Wert: Die Gefahr beim nächsten Mal noch klarer zu erkennen
und sofort, auf der Stelle, die Konsequenzen zu ziehen und sich wegzubegeben.
— Gerd-Lothar Reschke —
26.6.1999
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