Anschauungsbeispiele zum Menschlichen Maß (3)
Text und Fotos von
Gerd-Lothar Reschke
München ist ein reich beschenkte Stadt. Beschenkt durch das inspirierte Mäzenatentum von Wittelsbacher Königen wie Ludwig I. (und dessen Bauherrn Ludwig Klenze) oder Maximilian II. Beschenkt durch das Olympiagelände von 1972. Beschenkt durch die gemütvolle und liebenswerte Lebensart seiner bayerischen Bewohner. Beschenkt aber auch durch die Leistung eines Mannes wie Bernhard Borst. Denn dessen 1924-1929 entlang der Dachauer Straße errichtete Wohnsiedlung "Borstei", obwohl vom heutigen Massenpublikum selten bis gar nicht zur Kenntnis genommen, gehört doch unzweifelhaft zu den besten und interessantesten Augenmerken dieser Stadt.
Zufahrt/Einfahrt Dachauer Straße
mit die Gründung der Borstei darstellendem Fresko
Nein, spektakulär ist sie nicht, diese Wohnanlage. Wenn Sie die folgenden Bilder einmal eingehender auf sich wirken lassen, werden Sie etwas anderes, Stilleres, Hintergründigeres durchschimmern spüren, als was wir heute unter Themen wie "Architektur", "Stadtplanung", "Bau-Design", "Wohnraum-Erschließung" oder "Fassadengestaltung" zu sehen gewohnt sind. Dies hier ist viel zeitloser, viel nachhaltiger, aber ich scheue mich nicht auch zu sagen: viel echter, viel glaubwürdiger, viel menschlicher.
Die Borstei ist inzwischen auch schon in die Jahre gekommen, aber sie zeigt, daß es etwas gibt, das mit dem Alter nicht nur ab-, sondern zunimmt: Es gibt Dinge des Lebens, die gewinnen durch Benutzung, anstatt sich abzunutzen. Sie führen nachfolgenden Generationen vor Augen, daß es Werte gibt, die man sich immer wieder wachrufen muß, um nicht im Trubel einer oberflächlich voranstürmenden Zeit das Wesentliche aus dem Blick, vor allem aber aus dem Herzen zu verlieren.
Was ist es, dieses Wesentliche? Es würde mir schwerfallen, das in ein paar Schlagworten klar genug zu charakterisieren. Gebäude haben oft eine Wirkung, die mehr Saiten des menschlichen Empfindens anklingen läßt, als das Sprache je vermöchte. Deshalb kann und möchte ich hier nur ein paar Anregungen geben, worauf der Blick gerichtet werden könnte.
Nehmen wir zum Beispiel die Patina der Steine, der Türen aus Eiche, der Treppen und Figuren. Unsere heute übliche Architektur muß diese Patina leider als Feind betrachten, denn die meisten Beton-, Glas-, Zement-, Kunststoff- und Stahlbauten verlieren bereits nach ein paar Jahren das meiste ihrer Frische, ihrer Ausstrahlung, ihrer Überzeugungskraft. Sie wirken dann müde, verbraucht, abgetakelt. Man müßte sie
ständig renovieren, nämlich säubern, neu streichen oder ausbessern. Was natürlich selten der Fall ist. Das eigentliche Problem besteht darin, daß sie darauf angewiesen sind. Sie sind nicht in Hinblick auf Alterung und Benutzung entworfen worden. Materialien verwittern, werden staubig, verfärben sich, dunkeln ab. Darüberhinaus wird die Natur zum Feind, denn sie führt zu weiteren Veränderungen. Das Wachstum der Natur, der Bäume, Sträucher, Hecken, des Efeus wird in der Regel nicht vorausschauend mit einbezogen.
Bei der Borstei aber verhält es sich genau umgekehrt: Der Alterungsprozeß wertet die Anlage auf. Die Natur ist nicht ihr Feind, sondern ihr Freund, und es scheint, als ob sie mithelfen würde, diese Gebäude zu stärken.
Wie so etwas möglich ist? Ich vermute, daß es mit dem Geist zu tun hat, der hinter der Konzeption dieser Siedlung steckt: Konsequenter Einsatz hochwertiger Materialien und Anwendung solider Handwerkskunst. Von allem nur das Beste, so könnte man die damalige Devise knapp zusammenfassen. Das Echte, Wertige braucht sich vor der Zeit nicht zu fürchten. Die Zeit bringt es an den Tag, was Bestand hat und was nicht. Die Zeit bringt die tieferliegende Wahrheit an den Tag.
Tür aus Eiche und
Klingelschild aus Messing
in der Borstei
Nachdem ich zum ersten Mal die schönen Türen und die Griffe und Klingelschilder aus Messing gesehen hatte, und nachdem ich verwundert feststellen mußte, daß in der gesamten Anlage überall nur und ausschließlich diese Materialien verwendet wurden, und daß sie auch immer wieder mit Fleiß durchgehend blank poliert werden, vergaß ich dieses Detail niemals. Es begleitete mich hinfort immer als Erinnerung, wenn ich irgendwo Eingänge und Klingeltafeln sah. Und ich sah nirgendwo anders so etwas Wertiges wie hier. Man könnte geradezu von einem untypischen Luxus sprechen.
Nun gut, es sind "nur" Griffe und Klingelschilder. Aber solche in unserem sonstigen Lebensumfeld so gering eingestuften "Nebensächlichkeiten" erweisen sich doch als überaus symbolisch. Die Wertschätzung, die solchen beiläufigen Details gewidmet wird, entspricht der Wertschätzung, die man seinem eigenen Alltag zollt. Wir leben heute in einer Zeit des Überflusses an technischen und elektronischen Hilfsmitteln, und doch scheint die Lebensqualität zu sinken anstatt zu steigen. Was fehlt, sind solche "Kleinigkeiten", und daß diese "Kleinigkeiten" beachtet und in Ordnung gehalten werden. Und daß man ihren wahren Wert erkennt.
Platz mit Ladenzeile, Café,
Parkanlage, Springbrunnen und Säule
Ist hier etwas Großes, Besonderes anzutreffen? Nein, eben nicht, und gerade das ist schön. Die Tatsache, daß eine Siedlung ein paar — wenn auch kleine — Geschäfte und Dienstleistungsadressen benötigt (damit man nicht wegen irgendeiner Kleinigkeit wie Milch, Brot, Briefmarken ins Auto steigen und in den nächsten Supermarkt fahren muß), klingt recht banal. Aber auch sie gehört zu den unverzichtbaren Eigenschaften einer Anlage, in der menschliche Werte noch etwas zählen.
Platz mit Parkanlage, Brunnen
und Figuren
Parks, Brunnen, Zierfiguren (wenn möglich auch mit einer dem Betrachter erkennbaren Botschaft bzw. Aussage, also anmutig und inspirierend wirkend): Auch so etwas gehört mit dazu und bereichtert den Gesamteindruck, den Wohnwert.
Noch einmal zu den Eingängen: Schaut man sich die Türen in den verschiedenen Straßen der Borstei an, so fällt auf, daß je Straße eine andere Gestaltung verwendet wird. Aber hier wird kein spektakulärer Aufwand getrieben. Die Kosten sind nichts, was heute unerschwinglich wäre — ganz im Gegenteil. In den 20er Jahren war man bescheiden; man war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Aber gerade diese Anschauungsbeispiele beweisen, daß es nicht auf die Kosten ankommt und nicht auf ausgefallene Marotten, sondern auf die Inspiration und auf die dahinterstehende Einstellung. Grundsolides Handwerk und klare, geschmackssichere Handhabung einfacher Mittel erschafft eine völlig andere Wirkung als das, was wir heute überall vorgesetzt bekommen und schlucken müssen. Der Wert steckt nicht in der Optik, in der Kulisse, sondern im Kern, im Inneren.
Bernhard Borst gab mit guten Gründen natürlichen Baustoffen den Vorzug:
Ziegelwänden statt Beton, Mauerung mit Kalkmörtel, Geschoßdecken auf Holzbalken, Parkettböden aus slowenischer Eiche, Isolierung der Dachgeschosse mit Korkplatten.
Für die Spenglerarbeiten auf den Dächern wurde Kupferblech verwendet.
In jeder Hinsicht stellt die Anlage eine Gesamtheit, eine Ganzheit dar — aus einem Guß, könnte man mit vollster Berechtigung sagen. Nicht nur durch die gemeinsamen Herstellungsverfahren, nicht nur durch die kompakte Anordnung der Häuserzeilen und Trakte. Sondern auch durch ein gemeinsames Heizwerk und eine zentrale Wäscherei sowie ein für das Areal zuständiger Werkstatt- und Reinigungsdienst.
Davon abgesehen verbindet die Bewohner dieser außergewöhnlichen Anlage, die in Deutschland ihresgleichen sucht, das Wissen, als Mitbewohner Anteil zu haben an einem größeren Ganzen, an einer Gemeinschaft. Der einzelne kann in Ruhe leben, wie er möchte, und weiß doch, daß er bei weitem nicht so anonym, so isoliert und unwichtig ist wie in den üblichen Wohnsilos und Wohnkästen der Großstadt. Inmitten von München gibt es etwas, das mehr Seele hat, das geschützter, behüteter ist und von einer durchgehenden Vision inspiriert ist — der Vision von einem menschlichen Zusammenleben in Lebensqualität und Stilempfinden.
Das rechts gezeigte Luftbild vermittelt einen anschaulichen Überblick, mit welchem Einfallsreichtum die gegebenen Raumverhältnisse genutzt wurden. Man muß sich vorstellen, daß es sich bei Baubeginn um ein offenes trapezförmiges Areal von ca. 90.000 qm handelte, später durch von der Stadt erzwungene Zugeständnisse reduziert auf knapp 70.000 qm.
Anfänglich war davon ausgegangen worden, daß ein großer Teil des Geländes dem Lager des Bauunternehmens von Bernhard Borst vorbehalten sein sollte. Zu diesem Ansatz gab es auch einen Architekturwettbewerb, aber keiner der eingereichten Entwürfe wurde realisiert. Stattdessen beginnt Borst im Frühjahr 1924, nach eigenen Vorstellungen drei Häuser an der Ecke Dachauer Str./Pickelstraße
Luftaufnahme der Borstei
Aus: P. Schreiner, M. Michel, A.C. Woltmann:
Die Borstei — Ein zeitloses Modell für ein
Menschliches Wohnen, 1987
Hrsg: Borstei-Verwaltung
(linke Spitze auf dem Luftbild) zu errichten. In den weiteren Jahren kommen daran angrenzende Häuser entlang der Pickelstraße und der Dachauer Straße hinzu.
Als dann im Jahre 1926 feststeht, daß auf den Zuzug des Baulagers endgültig verzichtet werden kann, erschafft Borst den Plan für eine durchgängige Gestaltung des Gesamtareals im Stil der bereits errichteten Bauten.
Schließlich entstehen insgesamt 77 Häuser mit 773 Wohnungen und Läden. Das bereits erwähnte zentrale Fernheizwerk ist das erste seiner Art in Deutschland; es versorgt sämtliche Wohnungen mit Wärme und heißem Wasser. Bautechnisch und optisch schlägt sich das außerdem sehr vorteilhaft in der Tatsache nieder, daß keine Kamine benötigt werden.
Borst selbst hatte als Kind am eigenen Leibe bitter erfahren müssen, was es bedeutet, kein richtiges Dach über dem Kopf zu haben. So nahm er bei all seinen Planungen stets Rücksicht auf die Arbeitsbelastung der Bewohner (speziell der Hausfrauen) durch wiederkehrende Verrichtungen wie Waschen, Trocknen, Einkaufen oder Kinderbetreuung. Die Siedlung kann als idealer Prototyp für eine sinnvolle Organisation des Gemeinschaftslebens betrachtet werden, denn es gibt eine zentrale Wäscherei, Geschäfte für den täglichen Bedarf, Kinderbetreuung, Kinderspielplätze, Arztpraxen, Apotheke. Auch auf die Integration der Autos wurde geachtet, indem man die Innenhöfe entsprechend absenkte und die Garagen in die Häuser einbaute — was für die 20er (!) Jahre noch bei weitem nicht selbstverständlich war.
Von einigen ähnlichen, aber bei weitem nicht so konsequenten Ansätzen im 1972 erbauten Olympiazentrum und im
Arabellapark abgesehen,
läßt sich in München nichts finden, was das vom Bewohner erstrebte Ruhe- und Diskretionsbedürfnis auf so günstige Weise mit seinem komplementären Pol versöhnt und ausbalanciert: dem Wunsch nach Geborgenheit und menschlichem Miteinander. Entweder wir treffen die sattsam bekannten anonymen Wohnsilos der Trabantenstädte an, in denen der Einzelne vereinsamt und zunehmend unter Isolierung und Sinnlosigkeitsgefühlen leidet, oder wir müssen uns dem Ansturm der Konsumangebote in den Innenstadtzonen und Einkaufspassagen aussetzen, die nicht weniger frustrierend und inhaltsleer wirken. Entsprechend fühlt sich der Mensch dann schlecht, manchmal auch aggressiv, ja verraten.
Aber es ist in erster Linie immer die Architektur, die das bewirkt. Eine menschenfreundliche, von tieferem Verständnis und Mitgefühl erfüllte Architektur, wie sie in der Borstei anzutreffen ist, vermittelt bereits so etwas wie einen grundlegenden Eindruck von Sinn, Stimmigkeit und Geborgenheit — eben genau das, was sich jeder von einem guten Zuhause erhofft und verspricht.
Seit Herbst 2006 gibt es nun auch das Borstei-Museum, das aufzusuchen ich jedem, der sich für die Borstei interessiert, empfehle. Es befindet sich in der Löfftzstraße 10 (Hofseite). Die Öffnungszeiten sind: Di. + Do. 15-19 Uhr und Sa. 12-17 Uhr. Kontakt: Tel. 089/15 99 04 83.
— Gerd-Lothar Reschke —
15.7.1997
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