Wahrnehmung des Raumes, Schwingung und Resonanz bezogen auf den menschlichen Körper
von
Gerd-Lothar Reschke
Was ist der Raum? Woher haben wir so etwas wie Raumwahrnehmung?
Kann man Raum überhaupt wahrnehmen?
Kommt ein Kind auf die Welt, so greifen Hände nach ihm; es fühlt sich hochgehoben, festgehalten, gebettet.
Es gibt noch keine Grenzen, keine Trennung von Innen und Außen, Ich und Du, Hier und Dort. Alles ist Einheit. Aber ist da nicht etwas, das überrascht, das sich unvorhersehbar zeigt und zu spüren ist?
Ist dies auch das Hier?
Ist dies nicht etwas Fremdes, Neues?
Wo befindet sich dieses Neue, wo es doch vorher nur die Einheit gab?
Da spaltet sich das Hier in ein Hier und eine Welt. Etwas berührt 'von außen', etwas tut 'von außen' weh, etwas liebkost 'von außen'.
Da sind andere.
Da ist Umwelt. Umwelt ist das, was nicht in meiner Macht steht; Umwelt kommt von außen, macht etwas mit mir; ich bin ihm ausgeliefert, ich genieße es, ich meide es, ich hoffe darauf und fürchte mich davor. Eine deutlichere Trennung schält sich heraus: die Grenzen zwischen dem Ich und der Welt werden schärfer, das Ich wird zu einer Insel.
Raum entsteht. Der Unterschied zwischen Nähe und Ferne wird fühlbarer.
Da ist zum einen dieses sinnlich wahrnehmbare Gefühl meiner Beziehung zur Welt. Und da ist zum anderen eine abstrakte Dimension 'Raum'. Beim Kind bildet sich dieser 'Raum-Sinn' als Orientierungssinn, als Navigationsinstrument. Es lernt seine Bewegungen in bezug auf die Welt / den Raum genauer zu koordinieren. Dort vorne ist die Mutter, oder dort ist Essen; ich greife hinaus in die Welt und ziehe die Nahrung zu mir heran.
Dann lernt das Gehirn die Bewegungskoordination als mechanisches Muster, als Bewegungsprogramm, unabhängig von Gratifikationen der Sinne. Tiere wie Menschen lernen ganz zielstrebig die Beherrschung ihres Bewegungsinstrumentariums. Ein uraltes, in den Genen gespeichertes Entwicklungsprogramm läuft ab und gestattet dem Lebewesen, sich im Raum elegant und harmonisch zu bewegen. Ein immer komplexerer Automatismus entwickelt sich, der Vögel das Fliegen erlaubt, Menschen das Balancieren, das Tanzen, das Autofahren.
Raum ist Distanz, Überwindung der Distanz, Herstellung von Distanz, Maß.
Nähe hat eine andere Qualität als Entfernung.
Nähe kann als angenehm oder als unangenehm empfunden werden.
Nähe kann zur Enge werden oder Halt und Geborgenheit vermitteln.
Ferne kann Verlust bedeuten oder die Weite der Freiheit.
Wir nehmen die Sonne als weit wahr, aber als warm; den Mond, der viel näherer ist, empfinden wir durch seine Kühle als distant.
Und wie es es mit Gebäuden?
Auch zu Gebäuden empfinden wir Beziehungen.
Gebäude können drohend wirken oder kalt und abweisend; sie können aber auch schützend und anheimelnd anmuten.
Gebäude sind Teil des Raums, sie öffnen den Raum oder schließen ihn.
Sie verändern ihn.
Es gibt ein Menschliches Maß, das sich in unserer Beziehung zu Gebäuden reflektiert. Dieses Menschliche Maß hat zwei Seiten, eine äußere und eine innere.
Die äußere besteht im Verhältnis
zwischen der Größe des menschlichen Körpers
einerseits und der Größe des Gebäude andererseits.
Die innere Seite hat zu tun mit unserer eigenen, subjektiven Raum- und Größen-Empfindung
in Beziehung zum Gebäude.
Manche Gebäude sind einfach nur monumental. Ab etwa vier Stockwerken geht der Bezug verloren und wir kommen uns nur noch klein vor. Das ist etwas, was in der modernen Architektur verlorengegangen ist: entspricht die Größe des Gebäudes diesem menschlichen Maß oder ignoriert sie es?
Kathedralen, die sehr groß sein können, berücksichtigen es dennoch, weil sie bewußt darauf basieren und es nach oben hin erweitern: der Mensch fühlt sich gestreckt, etwas nimmt ihn am Scheitel und richtet ihn auf, orientiert ihn hin zur Vertikalen. Die sich emporschwingenden Spitzbögen heben seine Raumwahrnehmung, nehmen ihn mit nach oben, so daß er zu wachsen meint. Seine Aufmerksamkeit wird nach oben geführt.
Wolkenkratzer, als Extrembeispiel, oder einfach die rechteckig konstruierten Bürotürme, die uns heute überall umgeben, sind mathematisch konstruierte Objekte ohne Beachtung unseres Raumgefühls. Ihnen gegenüber fühlen wir uns genau so klein und bedeutungslos wie den oft darin ansässigen bürokratischen Herrschaftsstrukturen gegenüber. Das sinnentleert Abstrakte und Konstruierte dieser menschlichen Hervorbringungen ruft in uns ein Gleiches hervor: Auch wir fühlen uns in ihrem Bezirk auf einmal wie mathematische Gegenstände, wie Objekte planender Mächte. Die Wirkung ist: Bedrückung, oder 'Depression'.
Es lohnt sich, einmal einige Beispiele auf diesen Aspekt des 'menschlichen Maßes' hin zu untersuchen.
Diese Beispiele sind völlig willkürlich gewählt; es kommt hier darauf an,
Anschauungsmaterial zu haben und mit dieser Idee des Menschlichen Maßes wie mit einer neuen Seh-Linse konkrete Beobachtungen anzustellen.
Vielleicht finden Sie dann passende Beispiele für sich selbst.
Nehmen wir als ein Beispiel den Münchener Hofgarten. Er bildet ein Rechteck. Auf dessen einer Seite finden wir, zum Innenstadtkern hin, die Fassade der Residenz. Die zweite Seite, zum Odeonsplatz hin, wird durch eine mit Fresken bemalte Überdachung gebildet, die in die Rückfassade der Geschäftsgebäude am Odeonsplatz übergeht.
Der Residenz gegenüberliegend finden wir den langen Arkadengang.
Auf der vierten Seite haben wir in der Mitte das ehemalige Armeemuseum, das, mit zwei mächtigen modernen Seitenflügeln ergänzt, zur neuen Staatskanzlei wurde.
Wirkt die Fassade der Residenz monumental und sehr wuchtig, so reflektiert sie dennoch besagtes Menschliches Maß, da sie es bis ans Äußerste ausreizt: Sie hat nämlich genau jene Größe, die einem königlichen Bau zugekommen sein mag, und diesen Eindruck von Majestät erzielt sie auch heute noch, in einer ganz anderen Zeit.
Hier sind wir an einem wichtigen Punkt angekommen: Die Raumwahrnehmung unterliegt nicht dem Zeitgeschmack und nicht der Geistesgeschichte.
Sie ist etwas ganz und gar Zeitloses, Zeitunabhängiges. Die Fassade der Residenz wirkt zwar wuchtig, wird aber durch Aufgliederungen und Säulen so aufgelockert, daß sie nicht stereotyp anmutet, sondern dem Auge eine Anzahl von Flächen, Linien und Mustern bietet, an denen es sich entlangranken kann.
Figuren und Statuen unterstreichen diese Wirkung. Residenzfassade und Hofgarten bilden zusammen eine harmonische Einheit.
Das läßt sich auskundschaften, indem wir in den Gartenanlagen umhergehen und
immer von Neuem unser subjektives Raum- und Beziehungsgefühl in Hinsicht auf die
den Platz bzw. Garten umrandenden Gebäude registrieren und erspüren.
Hervorragend hierzu geeignet ist das vom Odeonsplatz zum Hofgarten führende Portal. Die Proportion dieses Bauelements bezeugt eine sehr bewußte
Maßvorstellung. Es ist nicht zu groß und nicht zu klein, sondern
von genau der richtigen Höhe, Breite und Tiefe. Man fühlt sich davon nicht
erdrückt. Es wirkt licht genug, um sich nicht
beengt zu fühlen. Nimmt man sich etwas mehr Zeit, dieses
Tor auf sich wirken zu lassen, dann kann man ihm nicht absprechen, daß hier etwas
mehr geschaffen wurde als nur ein Bauwerk. Gerade durch die Berücksichtigung
des Menschlichen Maßes, ja durch dessen bewußte Propagierung
kommt eine Harmonik ins Spiel, die schwer zu beschreiben ist, weil
sie Architekturkategorien überschreitet: eine Art Musik, ein
Schwingen, etwas Inspirierendes, Heiteres. Auf einmal taucht eine ganz
alte Erinnerung wieder auf, wie aus einem langen Vergessen: Römische und Griechische Bauten sind auch so.
Auch dort haben wir es mit Proportionen zu tun, die
nicht unsere gewohnten Wohnhausdimensionen aufnehmen, sondern
durchaus höher und weiter sind. Scheinbar unnötig größer und massiver.
Und doch entsteht eine schwer zu beschreibende
Stimmung von Kultiviertheit, von Beseeltheit, die immer wieder überrascht,
da man es ja schließlich mit schweren Steinen und Mauern zu tun hat,
die, nimmt man den rein physikalischen Gewichtsaspekt, durchaus erdrückend sein könnten.
Wie kann dann hier Leichtigkeit und Musik assoziiert werden?
Eben durch das Maß! Das Maß ist jenseits platter Größenordnung —
es ist Resonanzboden einer Schwingung.
Die Schwingung ist der geistige Aspekt des materiellen Äußeren, so wie die Textbedeutung der geistige Aspekt von schwarz-auf-weißer Schrift ist, also Information. Und Information, die, wie Musiknoten, eine Harmonik mitteilen will. Und wie bei Musik unser eigenes Inneres, unsere Gefühle und unsere
tiefen Persönlichkeitsschichten und Erfahrungen erst jene
Materie sind, auf der Musik widerhallt und wo sie wirken kann,
so muß auch bei der Wahrnehmung von Architektur eine innere Dimension in
uns mitklingen und widerhallen. Diese Art von Musik hat fast nichts mehr
zu tun mit rationalen Maßeinheiten, die uns unsere Augen über den
logischen Verstand vermitteln: Meter, Zentimeter, Winkelgrade, Kilogramm.
Es ist ein Gefühl — und bleibt immer ein Gefühl.
Wer selbst nicht mehr menschlich ist, sondern krank, gehetzt,
gierig-süchtig, manisch-überspannt, dessen Wahrnehmung
nimmt keine Harmonik mehr auf, sondern nur Geräusche oder Flächen und Körper. Der denkt nur noch in kalten numerischen Notwendigkeiten,
in die er seine eigene Verzweiflung und Angst projiziert, so daß sie Haß und Aggression werden.
Der steht vor solchen Bauten, und blickt sofort unruhig auf
die Uhr, ist im Geiste schon beim nächsten Ort, den er, später dort
endlich angekommen, mit der nächsten zwanghaften Fluchtfantasie betrügt.
Und doch haben die harmonischen Bauten einen unmerklichen Anker in
sein Unterbewußtsein geworfen. Ihre Wirkung ist objektiv und
kann nicht uminterpretiert werden. Ihre Wirkung wird nicht
visuell betrachtet, sondern man hat sie bereits eingeatmet wie einen aromatischen Duft und sie ist dann auf dem Solarplexus wie das beruhigende, sanfte Streicheln
einer zärtlichen, warmen Hand empfunden worden.
Sie drängt sich nicht auf: Wer sie nicht will, vergißt sie.
Sie trägt nichts nach. Sie wartet. Wer kommt, wird willkommen geheißen.
Er wird umsorgt, behütet, eingeladen zum entspannenten Verweilen,
zum friedlichen Heimkommen. Das tiefe, seufzende Aufatmen kommt immer
von selbst, nicht auf Wunsch. Aber daß es kommt, und wie es kommt,
in völliger Leichtigkeit und Freiheit, das ist das Schöne daran.
Der Hofgarten hat einen inneren Bereich, der von Hecken eingegrenzt ist.
Es gibt vier Brunnen in diesem Bereich und in der Mitte den Dianatempel,
eine offene Halle mit in den Pfeilern eingelassenen Springbrunnen.
Die Halle zieht die Passanten an, lädt sie ganz natürlich ein,
einzutreten und dort — für ein paar Augenblicke wenigstens — innezuhalten. Es ist die Mitte. Wer sie aufsucht,
trifft dort andere, man beobachtet sich mit etwas Verwunderung, wie denn
hier, inmitten der Großstadt, ein plötzliches Gefühl der Zusammmengehörigkeit und des
Miteinander-vertraut-Seins aufkommen mag. Es ist die Dimensionierung der Anlage, die das begünstigt.
Ebenso ergibt es sich leicht an den mit Bänken bestandenen Plätzen um je einen der vier Brunnen, daß sich Einsamkeit auflöst in einem losen Miteinander der Menschen, die dort sitzen, die Stille genießen und
dem leisen Plätschern des Wassers lauschen, das aus einer
Fontäne in die Schale zurückfällt. Der Radius dieses Kreises um den Brunnen ist gerade so, daß alle, die darin sitzen, sich nicht isoliert, sondern zugehörig fühlen wie eine zufällige Familie. Die Hecken und Bäumchen vermitteln Geborgenheit und Privatheit. Auch die Vogelwelt weiß die Vorzüge zu schätzen und der ganze Garten wimmelt nur so von zwitschernden und trillernden Gesellen.
Der Lärm der City scheint weit weg, nur zeitweise weht ein Rauschen des Verkehrs über die Dächer in die Idylle herein und die Glockenschläge der nächsten Kirche zerschneiden die Ewigkeit in genau bemessene Zeitrahmen, die einem aber die hier verbrachte Zeit nur umso wertvoller machen, da sie sie stetig ins Bewußtsein rufen.
— Gerd-Lothar Reschke —
17.5.1997
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