Beitrag über die Münchener Maximilianshöfe
von
Gerd-Lothar Reschke
"Wahrnehmen — Gestalten — Bauen" — dieser Titel des Architektur-Ideenjournals gehört zu diesen Dingen, die die allermeisten mit flüchtigem Nicken als völlig selbstverständlich nehmen und sogleich wieder übergehen. Selbstverständlich: wahrnehmen muß man zuerst — sonst kann man ja nicht gestalten; und gestaltet werden muß natürlich ebenfalls, bevor gebaut werden kann. Oder nicht? Das ist doch alles ganz klar, sozusagen "ziemlich banal".
Genau hier liegt aber der Hase im Pfeffer. Das einigen vielleicht recht harsch erscheinende Wort "Gehirnwäsche" meint aber gerade folgendes: daß man so beeinflußt wird oder beeinflußt worden ist, daß einem das ganz Selbstverständliche gar nicht mehr auffällt. Und das kann genauso bedeuten: daß einem das Fehlen, das nicht mehr Gewahrwerden von etwas ganz Selbstverständlichem nicht mehr auffällt. Daß man meint, man würde etwas dauernd tun oder merken, und in Wahrheit ist das genaue Gegenteil der Fall. Und ebendas bewerkstelligt Gehirnwäsche: Keiner merkt es noch. Keiner merkt, daß in seinem ganz normalen Lebensumfeld die meisten Menschen etwas Gravierendes übersehen, und daß durch dieses gemeinsame Übersehen, dieses völlig normal gewordene Nicht-mehr-Hinsehen, Nicht-mehr-Bemerken eine allgemeine Blindheit längst um sich gegriffen hat.
Man kennt es übrigens auch aus dem Märchen "Des Kaisers neue Kleider": Man meint etwas zu sehen, oder versucht etwas zu sehen, aber spricht nicht mehr an, was man, wenn man ganz neu hinschauen würde, tatsächlich dabei wahrnimmt. Denn (das ist die wichtige Hinterbedeutung der Parabel): man würde ja als "dumm", als "inkompetent" gelten, wenn man es ausspräche. Man wäre kein "Experte" mehr, sondern befände sich auf dem Stand eines unwissenden Kindes. Und das wäre ja schrecklich!
Genau darum geht es mir hier: um unschuldige Wahrnehmung. Dazu muß man aber hinsehen und neu hinsehen. Und ein kleines bißchen Mut gehört auch dazu.
Dieser Beitrag wird Ihnen zeigen, daß die meisten, die heute planen und bauen, nicht hinsehen, und daß sie auch nicht wahrnehmen — sondern daß sie sogar ihre Planungen auf die Unterdrückung und Ausgrenzung von Wahrnehmung fundieren. Sie werden hier einige leicht verständliche und einfach nachvollziehbare Beispiele finden, Sie werden damit des weiteren den dahinterstehenden Gedankengang, den grundsätzlichen Irrtum, sowie die damit einhergehende allgemeine Gehirnwäsche durchschauen und in ihrem Wirken gut nachvollziehen können, und Sie werden anhand dessen überall viele ähnliche Beispiele finden und studieren können. Es ist nämlich bereits so, daß so gut wie alle neueren Bauten nach demselben Muster konzipiert sind — daß es sich um eine Blindheit und Krankheit handelt, die geradezu epidemische Ausmaße angenommen hat, und die zugleich den absolutistischen Anspruch erhebt, "unsere Zukunft" prägen und gestalten zu wollen. Das sei sozusagen das, was von nun an auf uns zukomme, will man uns einreden.
Die folgenden, von mir in der Münchener Innenstadt aufgenommen Bilder können Ihnen hierzu einiges Anschauungsmaterial bieten und erste Anstöße zu eigener Erkundung liefern:
Maximilianhöfe (Maximilianshöfe?)
Es handelt sich dabei um einen neu eröffneten Geschäftsbereich, der zum Flanieren und Einkaufen einladen soll. So, wie hier gebaut wird, wird in vielen Bereichen der Stadt gebaut; ich habe einfach nur eines von vielen möglichen Beispielen herausgenommen. Ohne mich mit den einzelnen Details der Örtlichkeit auseinanderzusetzen, möchte ich mich auf das Hauptmerkmal dieser Art von Planung beschränken: Wir haben im wesentliche kalte, abweisende Glasfassaden vor uns. Dahinter verbergen sich Geschäftsräume und Läden, in die Kundschaft eintreten soll.
Maximilianhöfe, entgegengesetzte Blickrichtung
Was wir hier aber auch sehen, wenn man das einmal näher erfühlt und sich bewußter macht, das ist noch um einiges mehr als nur: Linien, rechteckige Raster, Glas, Beton, Metall. Sondern dahinter steht eine bestimmte Herangehensweise, die für das, was heute "modern" genannt wird (und bei dem so getan wird, als könne es keiner mehr verhindern, während manche es sogar als besonders aufgeschlossen und fortschrittlich bejubeln), besonders kennzeichnend ist. Es ist die Planung nach rein rationalen Aspekten. Ich nenne das auch "intellektuell", und die, die so etwas tun, nenne ich "Intellektuelle". Das heißt nicht, daß ich diese Menschen verachte oder daß ich sie brandmarken oder lächerlich machen will, sondern man muß verstehen, was es bedeutet, wenn jemand "intellektuell" ist, hier also: nach intellektuellen Gesichtspunkten erschafft und ausarbeitet.
"Intellektuell", das ist das Sich-Zurückziehen in den Verstand, in den Kopf, während zugleich die anderen Wahrnehmungs- oder Empfindungsbereiche weitgehend ausgeblendet werden. Ein solcher Mensch fühlt nicht mehr vollständig, sondern nur noch fragmentarisch — oder er fühlt gar nicht mehr, sondern er denkt nur noch, er lebt nur noch in Vorstellungen, in Konzepten, in Theorien.
Wie uns die gezeigten Beispiele deutlich machen, erhält dann die Theorie Vorrang gegenüber der Realität. Man kann sich z.B. gut vorstellen, wie solche Planer an Computern oder vor Reißbrettern sitzen und logisch-rationale Konstrukte bilden, dabei evtl. unterstützt von Grafik- und Architekturprogrammen. Oder wie sie in abstrakten Vorstellungen schwelgen von "hier ist der Kommunikationsbereich", "hier findet Interaktion statt", "dort geschieht Ortsveränderung". Es ist alles rein gedanklich.
Maximilianhöfe,
neue Kartenverkaufsstelle des Stadttheaters
Hat man sich erst einmal auf diesen Bereich verkümmert, dann läßt sich dort gut schwelgen und Neues ausdenken. Was dann noch fehlt, ist, dem Kunden, dem Auftraggeber das Ganze in Form hochgestochener Erklärungen darzubieten. Dabei spielt man dann an auf "Modernität", "zukunftsweisende Stilbildung", oder man nimmt Bezug auf andere Architekturen, die dem ähnlich sind und bereits in den einschlägigen Kreisen Furore gemacht haben. So etwas darf dann der Auftraggeber auch stolz sein eigen nennen können.
Wahrnehmung wird also durch abstrakte mentale Fantasie ersetzt. Die zweitere löscht die erstere fast völlig aus. Und muß das auch tun! Denn sonst kämen ja einfache, ganz praktische Fragen auf wie: "Wer will denn noch gerne in solch einen Eingang hineingehen, um für seinen Theaterbesuch Karten zu kaufen? Wo ist hier der Bezug zu Inhalt und Bedeutung eines solchen Eingangs oder Gebäudes?" Oder: "Wie fühlt man sich, wenn man sich hier aufhält und vor dieser Art Gebäude steht?"
Da stehen sich dann zwei Welten unversöhnlich gegenüber: Wie fühlt man sich — oder: Wie denkt man?
Genau das ist es, was diese Art zu bauen zustandebringt: den Menschen zu spalten und sein Denken gegen sein natürliches Empfinden auszuspielen. Ihn sich zu entfremden, ihn sich leer, hilflos und alleingelassen fühlen zu lassen.
Maximilianhöfe, Marstallplatz
Marstallplatz, entgegengesetzte Blickrichtung auf Max-Planck-Institut und Café Eisbach
Obige zwei Bilder, die den neu gestalteten Marstallplatz zeigen, veranschaulichen jedem, der seine Wahrnehmung auch nur ein bißchen öffnet und zum Zuge kommen läßt, vor allem eines: daß er degradiert und entwürdigt wird von dieser Art des intellektuellen Planens, daß er zu einem unwürdigen, unwichtigen kleinen Nichts zurückgestutzt wird, das hier kaum noch etwas zu suchen hat. (Übrigens sollen hier auch Konzerte stattfinden; man muß sich also die Stuhlreihen noch dazudenken.)
Einem solcherart mißachteten Menschen wird dann bedeutet, sich in einem derartig abweisenden, kalten, unwirtlichen "Planungsraum" wie dieser Platzgestaltung einzufinden und (siehe im oberen Bild hinten rechts) dort seine Freizeit zu verbringen, seinen Café zu trinken, Kontakte zu knüpfen, sich zu entspannen, sich wohl zu fühlen. Das weist man ihm zu, das ist es, wo einen derartige Denker und Planer hinhaben wollen. (Und wie es in ihnen selbst ausschaut, wenn sie so denken und solches vorhaben, das kann man sich recht gut vorstellen.)
Die Gehirnwäsche aber, ohne die das alles gar nicht möglich wäre: sie schafft es doch tatsächlich, dem heutigen Menschen zu suggerieren, das sei seine Bestimmung, seine Zukunft, sein Ziel. Das sei notwendige Folge seiner Fähigkeit, technische Hilfsmittel zu erschaffen und Naturwissenschaft zu betreiben. Sie macht sich Journalisten und akademisches Fachpersonal, Stadtplaner und Politiker zunutze, um solches den Lesern, den Schülern, den Studenten, einer staunenden Öffentlichkeit einzuimpfen, auf daß sie ebenso denken und das Verinnerlichte weiterverbreiten. So nimmt der Wahnsinn seinen Lauf, bis am Ende jeder meint, das müßte so sein und könnte selbst dann nicht verhindert werden, wenn man es wollte.
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— Gerd-Lothar Reschke —
24.11.2004
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