Von Gerd-Lothar Reschke
Wie empfinden wir die Qualität von Leben in der Stadt? In der Stadt tun wir zweierlei: Wohnen und Arbeiten. (Zum Wohnen sei auch die Freizeit gerechnet, die wir in der Stadt verbringen.) Was möchten wir von ihr?
Sind diese Bedürfnisse erfüllt, empfinden wir Qualität, werden sie enttäuscht, empfinden wir ein Qualitätsdefizit. |
Unsere Städte entwickeln sich, von gewaltsamen Zerstörungen durch Krieg oder Unwetter einmal abgesehen, unter zwei Einflüssen: Stadtplanung und diffus-verselbständigter Wandel der Lebensbereiche.
Der erste Einfluß scheint klarer: Stadtplanung umfaßt Architektur und Verkehrssystem, beidem sollte ein durchdachtes und genaues Konzept zugrundeliegen.
Der zweite Einfluß erscheint völlig chaotisch:
Die Gesamtheit der formenden Kräfte aller einzelnen Menschen, der Wirtschaft, der privaten Wohnbereiche.
Hier wächst und wuchert und arbeitet es wie in einem Ameisenhaufen —
jeder einzelne Mensch stellt nur einen ganz winzigen Faktor dar, und aus der Summe all dieser winzigen Bestandteile ergibt sich irgendeine unvorhersehbare Veränderung.
Das ist das Fazinierende an einer Stadt: Eine Stadt lebt.
Sie ist so kompliziert wie ein menschlicher Organismus. Aber sie läßt sich nicht so eindeutig aufgliedern in Gehirn, Herz, Lunge, Magen usw.
Alles wirkt aufeinander ein, alles beeinflußt sich gegenseitig.
Es scheint keine eindeutige Lenkungsinstanz zu geben.
Wenn wir es so sehen, dann ist die Stadt wie ein riesiges Ungetüm, das mit uns macht, was sie will.
Sogar Stadtplanung kann das nur unvollständig steuern.
Ist das wahr? Es ist wahr, wenn wir diesem pluralistisch-diffusen Konzept recht geben. Dann spiegelt sich diese Einstellung auch in der Stadtplanung:
Die widersprechenden, äußerst konträren Interessen der Hunderttausenden oder Millionen in unserer Stadt führen dann zu einem völligen Wirrwarr in den Entscheidungsinstanzen der Planung.
Die Vorstellung einer möglichst demokratischen Instanz führt dann zu einem unablässigen Hin- und Her der Richtungen und Konzepte, wie Wellen auf dem Ozean schlägt es einmal hierhin, einmal dorthin, keiner weiß letztlich, was am Schluß dabei herauskommen wird.
Jeder Versuch, in dieses Durcheinander hineinzufahren und eine klare Richtung vorzugeben, stößt auf unmittelbaren Widerstand konträrer Gruppen und deren Ansichten.
Man würde hoffen, durch das pluralistische Gegeneinander der verschiedenen Interessengruppen hätten wir auch die optimale Lösung für die Frage der positiven Weiterentwicklung unserer Stadt. Diese Hoffnung erweist sich jedoch als schwerwiegender Irrtum. Denn durch viele widerstreitende Stimmen kann kein harmonischer Chor entstehen.
Wir bezahlen also mit einem Verlust an Qualität.
Erforschen wir diesen wichtigen Punkt einmal genauer. Was ist es, das im pluralistischen Modell zu Qualitätsverlust führt?
Die Frage ist falsch gestellt, denn beides hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Das pluralistische Modell kann nur so viel an Perspektive und Wertbewußtsein gewährleisten, wie von vornherein da ist.
Bleiben wir bei dem Beispiel der Chores. Was ist der Faktor, der entscheidet, ob ein Chor harmonisch singt oder nur aus chaotisch gegeneinander tönenden Stimmen besteht, die sich dadurch zur Geltung bringen wollen, daß eine noch lauter schreit als die andere?
Dieser Faktor ist die gemeinsame Absicht.
Diese Absicht ist in einem Sinne pluralistisch und in einem anderen Sinne das genaue Gegenteil von pluralistisch.
Sie ist pluralistisch, weil viele ansonsten unterschiedliche Menschen etwas aus völlig individuellem Interesse und in völliger Freiheit tun; sie ist nicht pluralistisch, weil viele ansonsten unterschiedliche Menschen sich fast genau gleich verhalten.
Sie ordnen sich ein. Und zwar freiwillig.
Zugleich wissen sie, daß dieses Einordnen die einzige Möglichkeit ist, den anderen Aspekt zu gewährleisten, nämlich die Verwirklichung ihres individuellen Interesses.
Man könnte das als Paradox empfinden. Aber dieser Eindruck von Paradoxie, von Absurdität, von
unüberwindbarer Widersprüchlichkeit entsteht nur durch eine falsche Vorstellung.
Das Hindernis ist die falsche Vorstellung, freie Selbstverwirklichung und Einordnung schlössen einander aus.
Das pluralistische Modell bringt im Menschen der Gegenwart sofort und automatisch eine Vorstellung von Individualität im Gegensatz zur Einordnung hervor.
Ist diese Vorstellung lebendig, so beginnt sie mit all den beschriebenen Folgen zu wirken. Diese Vorstellung ist also der Auslöser für unser Problem der Minderung der Lebensqualität in der Stadt.
Ein Resultat dieser falschen Vorstellung ist die verbreitete Ansicht, man könne durch nachträgliche
Kritik sinnvoll in einen Planungsvorgang hineinwirken.
Der Vorgang wird als jederzeit veränderbar betrachtet, als von außen korrigierbar.
In Wirklichkeit entscheidet sich hier schon alles im Vorfeld.
Untersucht man einmal den gesamten Ablauf von der Konzeption zur Realisierung genauer, so stellt sich heraus:
Am Anfang, ganz zu Beginn, wird der wesentliche Impuls gesetzt.
Bei der Konzeption, und hier genauer: bei der zugrundeliegenden Idee.
Bei jener Vision, die von einem ganz bestimmten Empfinden von Sinn, Bedeutung und Aussage, ja Botschaft ausgeht.
Diese Vision ist der Keim der Pflanze, hier wird das Genmaterial vorgegeben.
Der Rest ist Wachstum, ist Materialisation. Hier kann nur noch variiert werden, und das bezieht sich auf Details und sekundäre Faktoren.
Diese Vision findet im Gehirn eines einzelnen Menschen statt.
Hier kulminiert eine Vorstellung, und diese Vorstellung
spiegelt individuelles Empfinden und kulturelle Prägung und Erfahrung
wieder — auf einzigartige Weise verschmolzen zu einem neuen Ganzen,
einer kreativen Konzeption.
Der Einzelne empfindet für alle. Seine Vision drückt die Vision aller aus.
Aber dazu braucht man Vertrauen, dazu muß man dem Einzelnen Raum lassen. Man muß ihn hoffen, atmen, denken, sprechen lassen, ohne gleich angstvoll die Urteilsmechanismen gegen ihn zu aktivieren. Er soll Vorschläge machen dürfen, die gehört werden. Er soll mutig sein dürfen, ohne neidisch angegriffen zu werden. Sein Mut ist unser Mut, seine Vision ist unsere Vision, seine Kraft ist unsere Kraft. Daran ist nichts Schreckliches, nichts Verpöntes, nichts Gefährliches.
Das ist das Problem unserer heutigen Zeit: Man erstickt alles im Keim. Man fürchtet Souveränität des Einzelnen. Man fürchtet "Faschismus". Man drückt sich unter dem Vorwand, demokratisch zu sein, im Hintergrund umher und projiziert von dort nach Belieben und ohne je Verantwortung übernehmen zu müssen, Vorurteile und ängste auf alles, was da vorne agiert.
Alles, was neu gebaut wird, symbolisiert einen Aufbruch,
symbolisiert ein Zusammenwirken, ja eine Freude und Begeisterung.
Es ist nicht nur Beton und Stahl, es ist nicht nur
Gebäude, Straße oder Platz — es ist auch Geist,
Hoffnung, Zuversicht, Bedeutung.
Wenn dieses Boot schwimmt, fahren wir alle mit.
Und wenn es sinkt, gehen wir alle mit ihm unter.
Woher kommt überhaupt die Bau-Idee?
Zweierlei Arten von Kreativen gibt es da:
Diejenigen, die aus einer authentischen eigenen, inneren Wahrheit schöpfen, und
diejenigen, die als Durchgangsstation und Sammelbecken für alles um sie herum fungieren.
Interessant ist, daß sich heute die zweiten als Repräsentanten des Ganzen begreifen, während die ersten wie eine Gefahr behandelt werden. Die zweiten müssen alles in sich hineinstopfen, was Mode, Trend und Stil ist,
was "gesellschaftliches Denken" ist (ein imaginäres, rein logisch schon völlig
absurdes Phantom, da es gar keine "Gesellschaft" gibt, die "denkt") —
sie müssen sich selbst ausgelöscht haben, dürfen nur noch als
zweckdienliche hohle Puppen fungieren, als Röhren, durch die
ein imaginäres Ganzes seine Botschaft schickt, von der nur leider keiner mehr weiß, was diese Botschaft ist. Falsch: die Botschaft besteht in Worthülsen und Parolen, in geistigen Attrappen und Klischees:
"Demokratie", "Umwelt", "Soziales", "Aufklärung", "Freiheit",
"Solidarität". Das Problem dieser hohlen Puppen besteht darin, daß sie
nun nicht mehr wissen können, was sie vorschlagen sollen, denn alles
wartet ja darauf, daß von ihnen etwas "Kreatives" kommen soll.
Also wird wie durch eine Mischmaschine alles an gängigen
Schablonen, Wertfragmenten, Bedeutungssplittern hinein- und durcheinandergemixt,
die ganze Kulturgeschichte geplündert und recycled, bis ein
konturloser Brei dabei herauskommt, der alles und nichts
bedeutet, keinem mehr weh tut, sich durch ein paar unverständliche
Fachbegriffe intellektuell absichert und, dergestalt aufbereitet,
den Popanzen der öffentlichkeit (Politikern, Medienvertretern und
Gelehrten) zum Fraß vorgeworden werden darf.
Kann man sich einen Mechanismus vorstellen, der kraftvolle
Aussage, energische Zielstrebigkeit, ungewohnt neues Gedankengut
und deutliche, mutige Impulse gründlicher und nachhaltiger vernichtet? Wohl kaum.
Kein Wunder, daß bereits jeder Anlauf in diese Richtung
durch präventive Entmutigung und Sinnlosigkeit ersticken muß.
Hier, an diesem Anfang, muß die Wende stattfinden. Wenn man nämlich einmal verstanden hat, was da gespielt wird, hat es gar keinen Sinn, Ideen produzieren zu wollen, die in die Mischmaschine geworfen und zum wasserlöslichen Baby-Brei verarbeitet werden. Jeder, der verstanden hat, was da vor sich geht, wird sich innerlich frei davon machen wie von einer ansteckenden Krankheit. Er wird authentisch schöpfen oder gar nicht. Denn er weiß, daß nur dort die wirkliche Kraft liegt. Die Kraft, die wirkt, etwas verändert, andere beeinflußt. Daß geschrien und kritisiert wird, bestätigt ihn umso mehr, denn der Beifall der Schreier und Kritisierer wäre nur der Beweis, daß etwas schiefgelaufen ist.
— Gerd-Lothar Reschke —
12.8.1997
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