Es gibt nur eine Baulehre der Zukunft, und diese beinhaltet eine Rückbesinnung auf die Wurzeln und einen ganzheitlichen Neuanfang, der Innen und Außen umfaßt.
Text von
Gerd-Lothar Reschke
Inhalt
Der richtige Begriff für eine ganzheitliche Art des Wahrnehmens, Gestaltens und Bauens ist Geomantie. Denn Geomantie ist kulturell und weltanschaulich neutral und umfaßt sämtliche Disziplinen der letzten zwei- bis ca. fünftausend Jahre, die auf einer tieferen Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des Ortes (Genius Loci) basieren.
Geomantie ist, wie Schamanismus oder Spiritualität, ein offener Begriff, der die verschiedensten Sichtweisen und Daseinsweisen umfaßt, ohne ideologisch auszugrenzen oder abzuurteilen. Das hat Vorteile und mag auch Nachteile haben. Aber was als Nachteil empfunden werden kann — unklare Kontur, Beliebigkeit, fehlende Abgrenzung gegenüber Scharlatanerie und Dilettantismus, fehlender Lehrkanon, fehlender Zertifiziermechanismus —, erweist sich in unserer heutigen Epoche sogar mehr und mehr als Vorteil.
Denn: Wir stehen in einer Zeit, die weiß (ob bewußt, oder ob unterschwellig ahnend weiß), daß herkömmliches rationales, also technisch-naturwissenschaftliches Denken zu beschränkt ist, um die Wirklichkeit ganz zu erfassen und auf sich einwirken zu lassen. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl alternativer Ansätze, traditionelle wie neu postulierte, die allesamt miteinander konkurrieren.
Eine sehr anschauliche Parallele hierzu finden wir in der Medizin: Die Schulmedizin fühlt sich dem technisch-naturwissenschaftlichen Weltbild verpflichtet und das wird vermutlich auch so bleiben. Die Folgen sind bekannt — ich glaube, ich kann es mir und dem Leser ersparen, dies im einzelnen auszuführen. Aber unter den alternativen Heilmethoden gibt es keine, die nachweisen könnte, daß sie allein den Weg der Zukunft beschreitet. Wir finden da alte schamanistische Rituale vor, traditionelle chinesische Schulen, Homöopathie, Bach-Blüten, Kneipp, Kräuterlehren, Suggestionsverfahren, Shiatsu usw. usf. Die Erfolge einzelner Angebote sind durchaus nachweisbar, aber keiner dieser Wege könnte für sich beanspruchen, der einzig aktuelle zu sein oder zu werden. So werden sich Ärzte, die längst wissen, wo die Grenzen ihrer herkömmlichen akademischen Ausbildung liegen, vielleicht einem dieser Angebote zugewandt und dort weitergelernt haben. Aber jeder weiß: Die Antwort, die umfassende Lösung, die definitive neue, ganzheitliche Medizin gibt es ganz einfach nicht.
Hier prallen ganz unterschiedliche Zeitalter und Kulturen aufeinander. Diese lassen sich nicht in einen Topf rühren und zu einer neuen, einheitlichen Lehre vereinen. Wer dies nun klar sieht und versteht, warum das so ist und gar nicht anders sein kann, der wird sich fragen, was denn die neue Perspektive sein kann, die das herkömmliche — und ebenfalls in seinem Absolutheitsanspruch überholte — naturwissenschafliche, einseitig rationale Denken ergänzen oder letztlich sogar ablösen kann. Es muß eine Antwort geben, aber wie wird sie aussehen?
Sie wird in einer Rückbesinnung auf die ursprünglichen Wurzeln des Wissens bestehen, und zugleich in einer schrittweisen Erweiterung, die alle bislang bekannten Sichtweisen mit einbezieht. Für die Architektur führt diese Rückbesinnung nun auf genau einen ganz konkreten Gesichtspunkt: Wahrnehmung und Anerkennung der ganzheitlichen Ausstrahlung des Ortes in bezug auf Erde und Mensch. Mit anderen Worten: Der Erkennende wird sich den Gegebenheiten der raum-zeitlichen Situation, in der er sich befindet, öffnen, wird seine Intuition wieder neu entdecken und entfalten, und wird dann mit dem ihm zu Gebote stehenden Wissen vom Gestalten und Bauen etwas Neues, etwas kraftvoll und heilend Wirkendes erschaffen.
Genau das aber ist Geomantie. Geomantie wird auch als Kunst der Erdbefragung oder Erd-Weissagung beschrieben, als uraltes, in jedem Menschen schlummerndes Wissen, einen guten Platz zu finden und ihn mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu gestalten und aufzuwerten.
Nun ist aber eines sehr wichtig: Wie das im einzelnen geschieht, nach welchen Schultraditionen, mittels welcher Techniken oder Methoden, und ob der eine hier mehr rituelle, der andere mehr spontane und intuitive Verfahren anwendet — dazu gibt es keine allgemeingültige Richtschnur. Die Geomantie ist offen, das erwähnte ich schon, und es ist genau diese Offenheit, diese zuerst einmal für viele etwas unsichere, wenig festgelegte Variabilität ist es, die genau den Erfordernissen einer neuen Zeit entspricht. Denn keine starre Ideologie paßt in diese neue Zeit, und das sehen wir in allen Lebensbereichen: Politik, Religion, Kunst, Musik, Heilkunst — und eben auch Baukunst.
Was hier passiert, ist zugleich ein enorm sensibler Balanceakt. Die Offenheit der Disziplin kann nur fruchtbar wirken, wenn wir uns nach außen tolerant verhalten (viel toleranter als bisher, viel weniger meinungsfixiert) und zugleich immer wieder in uns selbst peinlich genau nachforschen, was denn im Einzelfall gilt und richtig ist. Unser Maßstab ist nun die Intuition, und nicht mehr die Ratio! Das ist eine völlig neue Art des Herangehens und Handelns! Wir können nicht mehr so schnell, so sicher urteilen, wenn etwas, das wir nicht kennen, als Lösungsweg in Erscheinung tritt, sei es das erst einmal völlig unverständliche Improvisieren eines Schamanen, sei es das traditionelle Verfahren eines chinesischen Meisters, sei es das Wahrnehmen und Schlußfolgern eines an alten europäischen Traditionen orientierten Mystikers.
Wir müssen immer neu schauen und spüren: Was löst das aus? Was bewirkt es in mir? Was spüre ich jenseits meiner alten Verstandeskategorien? Wirkt das auf mich harmonisierend, heilend, kräftigend?
Der intellektuell vorgeprägte Mensch wird sich da vermutlich erst einmal dumm fühlen — sich des öfteren auch einfach nur ärgern —, aber die Frage ist: Hat er das charakterliche Format, sich weiter darauf einzulassen — auch seine Gefühle und Empfindungen zuzulassen, anstatt sich gleich wieder in die Sicherheit seiner alten rationalen Schubladen zu flüchten?
All das, was ich beschrieben habe, ist Geomantie, und sind die praktischen Begleiterscheinung der Auseinandersetzung mit Geomantie. Es ist ein gehöriges Maß Selbsterforschung und Selbsterkenntnis dabei nötig. Der Weg führt gleichzeitig nach außen wie auch nach innen. Gestaltet wird vielleicht außen ein Gebäude, aber innerlich wird parallel dazu ebenfalls etwas gestaltet. Und es lohnt sich, herauszufinden, was es ist, was dort gestaltet wird und sich abspielt.
Das ist aber alles gar nichts Neues. Es war früher längst bekannt. Sie werden sich vielleicht wundern, wenn Sie das jetzt lesen: In früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden war man sich dieser Aspekte noch wesentlich bewußter, sonst wären Bauwerke wie die Pyramiden, die Alhambra, die chinesischen und japanischen Paläste und Klöster, das Taj Mahal oder die Kathedralen nicht entstanden. Alle diese Gebäude lassen sich nur dann wirklich erkennen, wenn die Absicht der Baumeister entdeckt und erforscht wird, parallel zur äußeren Manifestation auch eine innere Veränderung zu erzielen. Wir sind heute dagegen etwas blind, etwas dumm geworden. Wir haben uns unsere großartigen technischen Neuerungen durch einen drastischen Verlust der inneren Empfindungsmöglichkeiten erkauft. Wir müssen das jetzt wiederentdecken und beide Seiten wieder zusammenführen und miteinander versöhnen.
Deshalb ist Geomantie die Baukunst der Zukunft. Und nicht irgendein platt importiertes Feng Shui, nicht irgendein verabsolutiertes Spezialwissen, komme es nun aus dieser oder jener alten Menschheitskultur. Alle diese Quellen können genutzt werden, aber herausfinden, was jetzt paßt, das können wir nur, indem wir damit beginnen, neu wahrzunehmen und das Richtige herauszufinden.
— Gerd-Lothar Reschke —
30.9.2003
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